Die Folgen der Terroranschläge in den USA für Deutschland bestimmen am heutigen Mittwoch eine Sondersitzung des Bundestages sowie eine anschließende Sitzung des Bundeskabinetts.
Berlin (ND). Bundeskanzler Gerhard Schröder wird in einer Regierungserklärung am Morgen nochmals die Zustimmung der Bundesregierung zum NATO-Bündnisfall nach den Anschlägen begründen. Bisher war der Bundestag noch nicht mit der Entscheidung befasst. In einer Resolution soll der Bundestag den USA uneingeschränkte Solidarität zusichern. Die Regierungskoalition hat einen Entschließungsantrag vorgelegt, in dem der Beschluss des Nordatlantikrates vom 12.September begrüßt wird. Der Bundestag soll die Bereitschaft zu »konkreten Maßnahmen des Beistandes« unterstützen. Diese seien nach Kenntnis der amerikanischen Wünsche »in eigener Verantwortung zu entscheiden«.
Die Unionsfraktion wie die der FDP haben eigene Entschließungen erarbeitet, unklar war bei Redaktionsschluss, ob es noch zu einem interfraktionellen Antrag kommen könnte. Der Bundeskanzler bemühte sich dem Vernehmen nach noch am Abend um eine entsprechende Übereinkunft mit den Partei- und Fraktionsspitzen der Opposition. Hingegen kritisierte die Union, dass Schröder noch nicht selbst zu Gesprächen nach Washington gereist ist. Deutschland drohe in die »zweite Reihe zu geraten«, meinte der Parlamentarische Geschäftsführer der CSU-Landesgruppe, Peter Ramsauer. Eine Entscheidung der PDS über einen eigenen Bundestagsantrag war am Abend noch offen. Die Fraktion beriet bis zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe. In Erklärungen sprachen sich Petra Pau, Fraktionsvizevorsitzende, und die Innensprecherin Ulla Jelpke gegen geplante Einschränkungen der Bürgerrechte mittels Gesetzesänderungen zur inneren Sicherheit aus.
Auf einer anschließenden Kabinettsitzung am Mittag will die Bundesregierung heute den ersten Teil eines Pakets von Maßnahmen zur inneren Sicherheit beschließen. Hierzu zählen zumindest die Verschärfung der technischen Flugsicherheit, eine Ergänzung des Terrorismusparagraphen 129a um einen Paragraphen 129b, der sich gegen in Deutschland ansässige Unterstützer ausländischer Organisationen richtet sowie die Verschärfung des Vereinsrechts. Noch am Dienstag suchten die Koalitionsparteien nach einem Kompromiss zum Terrorismusparagraphen, dessen Abschaffung die Grünen bislang gefordert hatten.
Im Bundeskanzleramt wurde inzwischen eine ständige Gruppe von Sicherheitsexperten aller zuständigen Ministerien und Dienste eingerichtet, die täglich zusammentritt, um »aktuelle und potentielle Gefährdungen für die Bundesrepublik Deutschland zu analysieren« und die notwendigen Beschlüsse vorzubereiten, wie es in einer Mitteilung hieß.
Unterdessen wächst der Widerstand gegen eine mögliche direkte Beteiligung der Bundeswehr an Vergeltungsschlägen der USA in der Regierungskoalition. Vertreter der Parteilinken von SPD und Grünen knüpften am Dienstag eine Zustimmung an konkrete Bedingungen. Der SPD-Abgeordnete Ulrich Kasparick lehnte in der »Berliner Zeitung« eine deutsche Unterstützung von US-Gegenschlägen ab. Er rechnete jedoch mit deutlich weniger Widerstand in der eigenen Fraktion als beim Mazedonien-Mandat, gegen das noch 19 SPD-Abgeordnete votierten. Sein Kollege Edelbert Richter forderte, über einen möglichen Einsatz deutscher Soldaten klare Auskunft zu erhalten. Außerdem müsse die Militäraktion durch ein UN-Mandat gedeckt sein. Winfried Hermann (Grüne) erwartete eine Reihe von Nein-Stimmen in den eigenen Reihen. Die Entscheidung werde zu einer »Existenzfrage der Koalition«, prophezeite er in einem Interview. Eine deutsche Teilnahme an einer solchen Militäraktion würden »grüne Wähler nie verzeihen«.
Der Verband deutscher Schriftsteller sprach sich am Dienstag gegen den NATO-Beschluss über den eingetretenen »Bündnisfall« aus. »Krieg gegen Afghanistan oder große Teile der islamischen Welt ist nicht die richtige Antwort auf die Terror-Aktion einiger fanatisierter Gruppen, deren nationale und politische Herkunft bislang nicht einmal eindeutig festgestellt werden konnte«. Auch die Jusos wandten sich dagegen, mit »kurzfristigen Militärschlägen Handlungsfähigkeit demonstrieren zu wollen«.
Am heutigen Mittwoch spricht Schröder mit dem britischen Premier Tony Blair in Berlin. Einen Tag vor dem EU-Sondergipfel in Brüssel kommt NATO-Generalsekretär George Robertson am Donnerstag ins Kanzleramt. In der nächsten Woche werden der russische Präsident Wladimir Putin und Italiens Regierungschef Silvio Berlusconi in Berlin erwartet.
Eine Woche nach den verheerenden Terroranschlägen steht Afghanistan unter massivem Druck, den mutmaßlichen Top-Terroristen Osama bin Laden auszuliefern. Dennoch vertagte das radikal-islamische Taleban-Regime am Dienstag ein Treffen von rund 1000 geistlichen Führern in Kabul, bei dem über das Schicksal bin Ladens entschieden werden sollte, auf Mittwoch. US-Präsident George W. Bush hatte am Montag bekräftigt, er wolle bin Laden »tot oder lebendig«.
Das Taleban-Regime hat in der Nacht zum Dienstag den USA einen »Heiligen Krieg« angedroht, falls sie wegen ihrer Unterstützung von bin Laden angegriffen wird. »Ich möchte unserem Volk sagen, dass der Heilige Krieg gegen die USA in aller Form wieder aufgenommen werden wird«, sagte der Vizechef des Taleban-Ministerrates, Mullah Mohammad Hasan Achond, im Rundfunksender »Schariat«.
Nach Angaben des UNO-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) zeichnet sich in Afghanistan ein neues Flüchtlingsdrama ab. Aus Furcht vor möglichen Vergeltungsschlägen der USA hätten in den vergangenen Tagen Zehntausende von Menschen vor allem die Städte verlassen, sagte UNHCR-Sprecher Kris Janowski in Genf.
Der britische Verteidigungsminister Geoff Hoon hält es für möglich, dass Terroristen in Zukunft auch mit biologischen Waffen angreifen könnten. »Wir haben bisher den Fanatismus der Täter unterschätzt«, sagte Hoon in einem BBC-Interview. »Wir müssen neu über Abwehrmaßnahmen nachdenken.«
Während in den USA die Vorbereitungen auf einen Vergeltungsschlag und die Kampagne gegen den Terrorismus auf Hochtouren laufen, mehren sich die Stimmen in der Welt, die zur Zurückhaltung mahnen. Dabei ist die Verurteilung der Anschläge in den USA weitgehend einhellig. China erklärte, ein Schlag gegen den Terrorismus müsse auf konkreten Beweisen basieren und dürfe keine unschuldigen Menschen in Mitleidenschaft ziehen.
Wie das Auswärtige Amt am Dienstag in Berlin mitteilte, sind bei den Anschlägen auf das World Trade Center in New York »mit hoher Wahrscheinlichkeit« 100 Deutsche ums Leben gekommen.