Am 25.April 1974 horchte die Welt auf: Binnen Stunden wurde das faschistische Regime in Portugal hinweggefegt. Vieles, was damals in der Nelkenrevolution erkämpft worden ist, ging verloren, doch es blieb auch vieles erhalten.
Im kleinen Fernseher in der Kneipe in Matosinhos, einem Industrievorort von Porto, läuft ein Fußballmatch. Real Madrid spielt. Plötzlich schwirrt durch das Stimmengewirr der Gäste der Name von Luís Figo, dem Wunderspieler vom FC Porto, der nun im spanischen Hauptstadtklub ist. Teresa Cutileiro, die uns auf der Rundreise durch Portugal begleitet, schwärmt: »Figo, das ist ein Nationalheld.« Unsere Gegenfrage: »Gibt es keine anderen Helden für Portugiesen, die heute Ende 20 sind?« »Wissen Sie«, antwortet sie, »mein Vater ist Mitglied der Kommunistischen Partei. Da gibt es für mich auch andere, mit denen ich gewissermaßen groß geworden bin. Den PCP-Generalsekretär Álvaro Cunhal zum Beispiel. Oder Vasco Gonçalves, einer der führenden linken Militärs.« Aber dies sei eine Frage der Erziehung. Viele ihrer Altersgenossen interessieren sich kaum für Politik.
Die Regierungen in jenen Jahren, in denen Teresa Cutileiro zu denken lernte, haben versucht, den Sturz der faschistischen Diktatur als Militärrevolte darzustellen, und behaupten, es sei gelungen, eine neue Diktatur, eine kommunistische, zu verhindern. Portugal hat heute Soldaten in Irak, und Regierungschef José Manuel Durao Barroso war im April 2003 Gastgeber des makabren Azoren-Gipfels, auf dem Bush, Blair und der Spanier Aznar den Grundstein für die »Koalition der Willigen« legten. 1974 gehörte Durao Barroso der »Bewegung für den Wiederaufbau der Partei des Proletariats« an, die das Wort »Revolution« mit drei »R« schrieb...
Rückblende: Portugal war nach 1945 das Armenhaus Westeuropas. Mehrere Demokratiebewegungen scheiterten an der Repression. Aufstandsversuche misslangen. Einzige wirksame Kraft der Opposition war schließlich die Portugiesische Kommunistische Partei (PCP), die im tiefsten Untergrund wirkte. In Afrika führte das Regime einen erbarmungslosen Krieg gegen die Befreiungsbewegungen, der einer der Hauptgründe für das Erwachen der Opposition in den Streitkräften werden sollte. Im Zweiten Weltkrieg blieb die am Mussolini-Faschismus orientierte Diktatur unter António Salazar formal neutral und war seit der Gründung der NATO deren wohlgelittenes Mitglied.
Am Morgen des 25. April 1974 zitierte der Moderator 20 Minuten nach Mitternacht im Rádio Renascença eine Textzeile aus dem verbotenen »Grândola, vila morena«. Dann erklang das ergreifende Lied des unvergesslichen José Afonso, das zur Hymne der Revolution werden sollte: »Grândola, Heim der Brüderlichkeit, in dir bestimmt das Volk.« Und »Grândola« war nicht das einzige Lied, das den Einheiten in Lissabon, Tomar, Vendas Novas, Lamego, Mafra, Santarém und Estremóz das Zeichen zum Losschlagen war. Kurze Zeit später ging der Schlager »E depois do adéus« von Paulo de Carvalho als Teil zwei der Aufstandslosung über den Äther. Um 4.20Uhr meldete sich im Rádio Clube Português die Bewegung der Streitkräfte (MFA). Kurze Zeit später waren alle wichtigen Regierungsstellen und Kommunikationsstränge in ihrer Hand. Nur das Hauptquartier am Carmo-Platz in Lissabon und die Zentrale der verhassten Geheimpolizei PIDE/DGS blieben etwas länger faschistische Bastionen. Und nun geschah, was aus dem Militäraufstand eine Revolution machte: Das Volk ging an der Seite der MFA auf die Straße. Die roten Nelken, die die Menschen spontan in die Gewehrläufe steckten, hatten nicht nur eine symbolische Bedeutung: Eine Diktatur, die fast ein halbes Jahrhundert gewährt hatte, brach fast ohne einen Schuss zusammen.
Was dem 25. April und den niedergeschlagenen reaktionären Putschen vom September 1974 und März 75 folgte, war der wunderbare Traum eines demokratisch verfassten Sozialismus. Zogen anfänglich Kommunisten, Sozialisten, unabhängige Demokraten und Militärs unterschiedlicher linker Provenienz an einem Strang, so zerfiel das große antifaschistische Bündnis in dem Maße, in dem die unterschiedlichen sozialen Interessen der sie repräsentierenden Klassenkräfte zum Tragen kamen. Die Nationalisierungen von Bankkapital und Basisindustrie kamen vor allem auf Initiative der militärischen Linken um Vasco Gonçalves und dem »roten Admiral« Rosa Coutinho zustande. Unter Führung der Kommunisten wurde im Alentejo eine Bodenreform durchgeführt.
Die Folge war der erbitterte Widerstand der Großbourgeoisie und -grundbesitzer, aber auch der Führung der Sozialistischen Partei (PS) um den späteren Regierungschef und Präsidenten Mário Soares. Auch beträchtliche Teile der MFA um den verstorbenen Oberstleutnant Melo Antunes fürchteten die Errichtung eines Sozialismus nach sowjetischem Vorbild.
Dies war jedoch keinesfalls das Ziel der PCP, die sich bereits 1974 vom Begriff der »Diktatur des Proletariats« verabschiedet hatte. Auch lag dies nicht im Interesse der UdSSR. Gleichwohl traten unverzüglich ausländische Todfeinde der Linken auf den Plan. Mit unglaublicher Intensität waren vor allem die USA in Gestalt ihres damaligen Portugal-Botschafters Frank Carlucci, enger Freund des heutigen Verteidigungsministers Donald Rumsfeld, und die CIA tätig.
Die zunehmend divergierenden Interessen von PCP und PS, wohl aber auch ein bis heute nicht überwundenes Misstrauen verhinderten ein dauerhaftes Zusammengehen der Linken. Als am 25. November 1975 linksradikale Soldaten meuterten, nutzte die wiedererstarkte »demokratische Rechte« der Armee die Gelegenheit zur Abrechnung. Wenngleich die Anfang 1976 verabschiedete neue Verfassung noch den Sozialismus als gesellschaftliches Ziel postuliert und die Errungenschaften des 25. April festschreibt - der Weg in die bürgerliche Demokratie ist vorgezeichnet
War die Revolution umsonst? Der revolutionäre Prozess, der dem Sturz des faschistischen Regimes folgte, eröffnete den Völkern der Kolonien in Afrika den Weg in die Unabhängigkeit. Demokratische Errungenschaften wie eine soziale Arbeitsgesetzgebung, die Presse-, Rede- und Versammlungsfreiheit, die Festschreibung der Gleichberechtigung von Mann und Frau, die anderswo in einem jahrzehntelangen Kampf der Arbeiterbewegung erkämpft wurden, entstanden in Portugal in kürzester Zeit aus einer revolutionären Dynamik heraus. Einer einflussreichen Gewerkschaftsbewegung gelingt es, sich dem Sozialabbau Durao Barrosos in den Weg zu stellen. Allein, es wird nicht reichen, wenn sich Anhänger beider Parteien auf den zahllosen Veranstaltungen zum 25.April zu ihren Idealen bekennen. Die fehlende Einheit der Linken bleibt wohl die bitterste Erfahrung des 25. April.
Inzwischen hat der Kellner in der Kneipe von Matosinhos zum Abschluss des Mahls die unvermeidliche »Bica com bagaço«, Espresso mit Tresterschnaps, serviert. Das Fußballspiel ist zu Ende. Figo hat wohl kein Tor geschossen. »Na ja«, sagt Teresa, »Helden können auch schon mal enttäuschen.« Aber vielleicht kommen ein paar Freunde mit nach Lissabon, zur großen Demonstration am Sonntag. Womöglich finden sie ja neue Helden. Bei allem Respekt vor Figo.
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