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  • 28. BERLIN-MARATHON

»Mein Sieg ohne Krieg«

44 000 bei Run for Peace am Start / Wieder viele Rekorde und zehntausende ganz gewöhnliche Selbsterfahrungstrips

  • Michael Müller
  • Lesedauer: 5 Min.
Beim Berlin-Marathon haben wir uns an die alljährlich schon vorab gemeldeten Superlative aller Art fast ebenso gewöhnt wie an grandiose Siegerzeiten danach. So auch nicht anders bei der 28. Auflage, die am Sonntag von 8.15 bis 9 Uhr auf der Straße des 17. Juni am Charlottenburger Tor gestartet wird.
Mehr als 44 000 Teilnehmer, Läufer, Skater, Rollstuhlfahrer und Power-Walker (Geher) - neuer Rekord. Sie kommen aus 85 Ländern - von Dänemark (2207) und Niederlanden (1074) bis Brasilien (35) und Neuseeland (25) - ebenfalls Rekord. Bei den Frauen ist die japanische Olympiasiegerin Naoko Takahashi, bei den Männern der keniatische Weltrekordlerin Tegla Loroupe (2:20:43) dabei. Beide haben angekündigt, die 2:20:00 h zu unterbieten - auch das wäre Rekord. Bei einer Bestzeit würde sich die Preissumme auf 210 000 Mark erhöhen - ein Rekord. Allein aus Japan haben sich 100 Journalisten akkreditiert - Rekord. Und schließlich auch das ein Rekord: Im Rahmenprogramm werden über 60 Musikgruppen dabei sein. Von den 4350 freiwilligen Helfern, 325 Ärzten und Sanitäter sowie 360 Masseuren gar nicht zu reden.
Es wird beim Berlin-Marathon aber auch eine neue moralische Dimension geben. Der Lauf ist unter das Motto Run for Peace gestellt, Rennen für Frieden also, »um so unserer Meinung zur weltpolitischen Lage Ausdruck zu verleihen«, wie es die Veranstalter formulieren. Und auch in diesen Zusammenhang noch eine Novität: Es wird innerhalb des Marathons eine Promi-Staffel zugunsten der UNICEF-Impfkampagne Kick of Polio geben. Ex-Boxer Axel Schulz, Marathonläuferin Uta Pippig, Popsänger Joey Kelley, Tenor Gregor Prächt und andere sammeln Geld. Jeder 20-Mark-Schein kann ein Kinderleben in den ärmsten Ländern der Welt retten.
Doch solche Massen-Marathonläufe leben natürlich in der Breite weniger von Superlativen, sondern vor allem von zehntausenden Einzelsiegen über sich selbst. Die 42,195 km sind in den letzten Jahren für immer mehr Freizeitsportler zu einem einzigartigen bis exzentrischen Selbsterfahrungstrip geworden.
Einer dieser passionierten Läufer, Manfred Steffny, hat in einem Buch drei Dutzend solcher Selbsterfahrungen unter dem gemeinsamen Nenner »Mein erster Marathon« gesammelt (Spiridon Verlags GmbH). Sie vermitteln durchaus eine Ahnung, was an der Sache für den Einzelnen so faszinierend, fesselnd, prägend ist:
Gesine Strempel: »Vor zwei Jahren habe ich in Berlin am Straßenrand gestanden, habe geklatscht und gebrüllt, als die Läufer kamen, vor allem die hinten, die schon vier Stunden gelaufen waren und länger und es kurz vor Zielschuss schafften. Manche ganz locker, andere weniger. Ich habe sie alle bewundert und manchmal war ich richtig gerührt. Nur Mut, dachte ich mir, mal sehen. Ein Jahr später habe ich selbst vier Stunden 31 Minuten gebraucht. Es war mein Sieg ohne Krieg.«
Karsten Wranig: »Nun der letzte Trainingslauf, noch mal fünf Kilometer zum Warmwerden. Eine große Runde um den Orankesee in Berlin. Nach der langsamen halben Stunde frage ich mich, wie ich morgen wohl einen Marathon laufen will. Nur nicht verrückt werden. In 24 Stunden bin ich ein anderer Mensch.«
Fritz Blieffert: »Ich wollte nur nicht ausrutschen, stolpern, hinfallen, vielleicht ist dann der Krampf wieder da, und ich komme überhaupt nicht mehr in Gang. Endlich das Ziel. Ich glaube, ich wäre im Trance immer weiter gelaufen, immer weiter, immer weiter, wenn man mich nicht aufgehalten hätte. Es gab auch Elektrolyt zu trinken und in allerkürzester Zeit war ich wieder voll da. Na gut, habe ich dann gemeint, wenn ich diesen Marathon so gut überstanden haben, dann gehe ich im nächsten Jahr auf die 100 Kilometer nach Biel in der Schweiz.«
Sabine von der Lühe: »Ich habe durchgehalten und bin in für mich guter Zeit angekommen (4:24:58). Meine Lauf-Bekannte sagte mir am Abend danach, dass ich einen unmöglichen Stil habe, die Arme arbeiten gegen die Beine und insgesamt wirke ich hölzern. Mein Muskelkater an den ungewöhnlichsten Stellen bestätigt ihre Beobachtung. Ich wollte ja auch nicht behaupten, dass ich schon komplett bin. Ich habe doch gerade erst angefangen.«
Bernd Schwane: »Nach etwa 28 Kilometer eine weitere große Motivation - ich überholte die ersten "Fußgänger". Ein Wahnsinnsgefühl - in meinen bisherigen Volkssportläufen hatte ich kaum jemanden hinter mir gelassen. Bei denen war wohl der "Mann mit dem Hammer" am Werk gewesen. Aber wie sah es bei mir aus - wunderbar, alles easy! Voller Begeisterung saugte ich wie ein Schwamm alle Eindrücke um mich herum.«
Cornelia Schötz: »Ich suchte meinen Startblock. Neben mir plapperte eine Gruppe Italiener fröhlich und unverständlich durcheinander. Auf der anderen Seite hielt eine junge Frau vergeblich Ausschau nach ihrem Begleiter. Dann durften wir aufrücken. Als wir mit dem Start an der Reihe waren, konnte ich kaum noch denken. Ich spürte, wie mein Herz raste. Die Pulsuhr zeigte 180, bevor ich auch nur einen Schritt getan hatte.«
Brigitte Schneider: »Was hatte Edda mir von unterwegs geschrieben, als sie im Zug zu ihrem Marathon nach München fuhr: "Der Weg ist das Ziel"? Ja, richtig. In zehn Minuten kannst du am Ziel sein. Sie schrieb auch was von "Runners high", also von Glücksgefühl. Ich habe die letzten fünf Kilometer nur gekämpft. Hallo, wo bist du, "Runners high", du Glücksgefühl? Ich warte...! Leider nichts.«
So oder ähnlich wird es sich auch am Sonntag wieder in zehntausenden Köpfen beim hier zu Lande größten läuferischen Selbsterfahrungstrip abspielen.


TV: 8.50 bis 11.30 Uhr ARD/SFB, 11.30 bis 13 Uhr und 21 bis 21.45 Uhr B1 SportPalast extra. Streckenverlauf: ND vom 28. September (Berlin-Ausgabe/Seite 15).

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