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Der Einschuß in der Holzwand

Das „Neue Ökonomische System der Planung und Leitung “(NÖS) und der Tod Erich Apels

  • Lesedauer: 11 Min.

Prämie“ im Dezember 1962 Reformen für die Industrie der UdSSR vorgeschlagen hatte, die zuerst in „ausgewählten Betrieben“, später dann in einigen Industriebereichen erprobt wurden. In der DDR wurde das „NÖS“ umfassend eingeführt.

War das zentralisierte sowjetische Planungssystem beim forcierten Aufbau der Schwerindustrie bei gebremstem Lebensstandard noch denkbar, so brauchte man in Zeiten der wissenschaftlichtechnischen Revolution und des gestiegenen Konsums der Bevölkerung ein flexibleres System, in dem die Fragen dort entschieden wurden, wo die größten Fachkenntnisse konzentriert waren, d. h. die grundlegenden Fragen zentral und alle anderen Fragen dezentral, bei klarer Verantwortung auf jeder Ebene mit den nur notwendigsten Zwischenstufen. Die Zahl der Planvorgaben wurde radikal eingeschränkt. In der Anfangsphase gab es Erfolge und Lob für die Initiatoren. In den politischen Bereichen schaute man wie gebannt auf das große Experiment der Ökonomen und die ermöglichten Freiräume. Moskau beobachtete das neue System abwartend kritisch, und die orthodoxen Kräfte in der DDR spitzten nicht nur ihre Bleistifte.

Das Zünglein an der Waage des „NÖS“ war der Gewinn, der nun eine erstrangige Bedeutung für das Wirtschaftswachstum erhielt. Die Reformer hatten vorgesehen, daß grundsätzliche Änderungen im administrativen Preissystem erforderlich waren, wenn das neue System funktionieren sollte, denn ohne flexible Preise, die sich am Weltmarkt orientieren sollten, konnte der Gewinn nicht zum entscheidenden Maßstab werden. Die Theorie von den beiden Weltmärkten, dem sozialistischen und dem kapitalistischen, hatte sich mit dem Anwachsen des internationalen Warenaustau-' sches ohnehin als haltlos erwiesen. Sie waren aber sehr bald mit ihren Vorschlägen zur Schaffung eines „Preisregelsystems“, mit dem durch „gleitende Preise“ ein Druck auf die Senkung der Selbstkosten mit dem Ziel erzeugt werden sollte, sich den Weltmarktkosten anzunähern, bei der Parteiführung auf Ablehnung gestoßen. Dadurch entstanden neue Widersprüche und Konflikte, die von den Gegnern des „NÖS“ ausgenutzt wurden.

Alfred Neumann, der in dieser Zeit den Volkswirtschaftsrat leitete, versuchte auf einer Wirtschaftskonferenz der Partei mit ca. 1 000 Teilnehmern, das „NÖS“ lächerlich zu machen. Da die Staatliche Plankommission in diesem System nach einer Art Bilanzpyramide nur noch etwa 120 Positionen, vor allem Rohstoffe, zentral planen und bilanzieren sollte, worunter sich z. B. auch „Dieselmotoren“ als eine zusammengefaßte Position befanden, die dann in den WB und Betrieben immer weiter nach Typen und Stärken detailliert und aufgeschlüsselt werden sollten, hatte Neumann durch Mitarbeiter die Einzelteile eines Dieselmotors bis zu den Bolzen und Unterlegscheiben zählen lassen. Er nannte die Zahl von über 12 000 Teilen und polemisierte nun, wie das alles ohne Verflechtungsbilanzen durchgeführt werden solle. (...) Später ergänzte er, daß die Plankommission es z. B. auch unterlassen habe, die Vorstufen der Bekleidungsindustrie zu planen. Dabei müßte doch so vieles bedacht werden, wie z. B. „die Musterung, die Farben, die Griffigkeit, das Gewicht der Stoffe.“ Welch eine Naivität. Als ob irgend jemand in der Lage wäre, Dieselmotoren bis zur Unterlegscheibe oder die Griffigkeit und Musterung der Stoffe planen zu können.

Mit diesen primitiven Auffassungen eines Politbüromitglieds über ein neues Wirtschaftssystems wurden die

Schöpfer des NÖS konfrontiert, deren Gedanken Neümanri als Quatsch bezeichnete, den sich Leute wie Apel, Mittag, Berger und Wolf ausgedacht hätten.

Das Gefährliche dieser Angriffe lag auch darin, daß Neumann in seiner witzig-berlinerischen Art das Vorhaben für wirtschaftliche Reformen in der DDR ins Lächerliche zog und untergrub. Wer konnte sich schon das Schmunzeln verkneifen, als er auf dem 7K-Plenum zu Apel sagte: „Dein Plan is wie'n scheenet Mä'chen. Tolle Fijur, hübschet Jesicht, lange Beene, aber det Luder hat'n Ast!“ Es war aber leider nicht nur ein Witz. Daß es bitterer Ernst war, zeigte sich auch darin, daß Neumann Erich Apel und Günter Mittag intern als „Banditen“ bezeichnete und nie einen Hehl aus seiner Abneigung machte.

Auch Paul Fröhlich, Mitglied des Politbüros und einflußreicher Erster Sekretär der Bezirksleitung Leipzig, griff 1965 Erich Apel und die Staatliche Plankommission im Politbüro scharf an, und wie so oft wurde nun alles dort abgeladen, wo man einen Schuldigen für die Schwierigkeiten in der Wirtschaft ausgemacht hatte. Und Schwierigkeiten gab es genug. Auch die unbefriedigenden Ergebnisse in den Verhandlungen über sowjetische Rohstofflieferungen für den Fünfjahrplan-Zeitraum 1966 bis 1970 lastete man Apel und der Staatlichen Plankommission an, der angeblich die sowjetischen Verhandlungspartner beleidigt haben sollte. Nicht zu Unrecht sagt man, daß Erich Honecker von Anfang an zu den Gegnern des „NÖS“ zählte, er sich aber nur mit Rücksicht auf Walter Ulbricht mit seiner Kritik zurückhielt, dessen Nachfolger er werden wollte. Genau das wollte auch Alfred Neumann werden, der das Wettrennen um die Nachfolge später jedoch verlor.

Am 8. und 9 Juli 1965 kam es auf der Insel Vilm zu jener dramatischen Beratung unter Leitung von Walter Ulbricht, die für Erich Apel der Anfang vom Ende werden sollte, weil dieser an Erfolge gewöhnte, selbst sehr rauhe, oft ungerechte und dennoch sensible Mensch von der Kritik in tiefster Seele getroffen wurde. An

dieser Beratung nahmen Erich Höheckär,' Willi 'Stoph,' Gerhard Grüneberg, Günter Mittag, Erich Apel sowie Siegfried Böhm, Leiter der Abteilung Planung und Finanzen des ZK, Hans Wittik, Stellvertreter des Vorsitzenden des Volkswirtschaftsrates, und ich teil. Es stimmt also nicht, daß Erich Apel von Ulbricht gar nicht erst eingeladen worden war Es hagelte von allen Seiten Kritik. Besonders erschüttert war Erich Apel darüber, daß sich auch Günter Mittag eindeutig auf die Seite der Kritiker geschlagen hatte.

In der Sitzung des Politbüros zur Auswertung der Beratungen auf der Insel Vilm am 13. Juli 1965 bezeichnete Walter Ulbricht es als „Hauptfehler“, daß die „Staatliche Plankommission die erforderlichen Bilanzierungsmethoden unter den Bedingungen des NÖS nicht beherrscht“ und „zu vieles an sich gezogen hat, was sie gar nicht lösen kann.“ Das war nun wieder eine Schwenkung um 180 Grad. Walter Ulbricht ging in seiner Kritik so weit, daß die „Staatsführung gelitten habe“ und daß alles im „ZK wieder zurechtgebogen werden muß.“ Im Politbüro unterstützten Hermann Axen, Paul Fröhlich, Kurt Hager, Erich Mückenberger, Horst Sindermann und Willi Stoph mehr oder weniger hart - die Kritik Walter Ulbrichts an Apel und an der Staatlichen Plankommission.

Die Stimmung Apels an seinem kurz darauffolgenden Geburtstag war so schlecht, daß sogar sein schwarzer Pudel traurig auf dem Fensterbrett seiner Wohnung in Wandlitz lag. Unsere Blumen behielt er gern, aber die, die ihm von offiziellen Stellen überreicht wurden, gab er den Gästen mit nach Hause. Der Parteisekretär der Staatlichen Plankommission, Hans Otto, war so berührt von Apels Traurigkeit, daß er mich fragte, ob ich nicht in meinem Garten in Wandlitz einen Schnaps hätte. Und tatsächlich trank die traurig-durstige Gesellschaft an diesem Tag alle meine alkoholischen Vorräte, einschließlich meiner mühsam gesammelten Zierflaschen, leer.

Mit der Person des Reformers Erich Apel war unver-

meidlich auch das „NÖS“ angeschlagen, doch Walter Ulbricht hielt noch daran fest. Es wurde aber dahingehend geändert, daß neben dem Gewinn weiteren Kennziffern, wie dem Wachstum der industriellen Warenproduktion und dem Export eine entscheidende Rolle zugebilligt wurde. Leider wurde jedoch das bestehende Preissystem in der DDR niemals verändert. Der wenig später zum Leiter des Staatlichen Preisamtes avancierte Walter Halbritter, ein erfahrener Finanzökonom, der von Walter Ulbricht auch als Kandidat ins Politbüro geholt wurde und immer wieder Vorschläge für tiefgehende Preisreformen vorlegte, kam einfach nicht über die Hürde der Beschlußfassung hinweg. Nur mit allergrößter Mühe gelang es ihm, eine Reform der Industriepreise durchzusetzen. Die Kosten wurden jetzt dort fixiert, wo sie entstanden. Das war wichtig, weil bis dahin zahlreiche Subventionen in den Vorstufen Verwirrung

schufen. Da jedoch die Preisfestsetzung und vor allem die der Einzelhandelsverkaufspreise weiterhin in der Hand des Staates blieben und weiter mit Subventionen und Akzisen (Verbrauchsteuern) gearbeitet werden mußte, wurde die Wirkung des neuen Systems der Industriepreise stark eingeschränkt. So blieb eine klare Berechnung der Kosten und des Gewinns in der Verflechtung der Volkswirtschaft der DDR auf Dauer ungelöst und hemmte damit die Entwicklung des ökonomischen Denkens bedeutend.

Trotz beträchtlicher Fortschritte reichte es letztlich nicht aus, den Gewinn zur Hauptkennziffer des Planes zu machen. Der Staat hätte das System durch eine Steuerreform ergänzen müssen, um den Betrieben nach Zahlung der Steuern die Verfügungsgewalt über die Gewinne und auch über die Amortisationen zu geben, anstatt sie nur materiell zu interessieren und alle anderen finanziellen Mittel

über den Staatshaushalt umzuverteilen. Dafür gab es jedoch wegen der gewollten Schwerpunktbildung und planmäßigen Konzentration von Investitionsmitteln auf ausgewählte Industriezweige auch in der Zeit des „NÖS“ keine Voraussetzungen.

Am 2. Dezember 1965, wenige Tage vor der 11. Tagung des Zentralkomitees der SED, die als Forum der kritischen Abrechnung mit der Arbeit der Regierung und besonders der Staatlichen Plankommission bei der Planung und Leitung der Wirtschaft (und auch für Auseinandersetzungen auf dem Gebiet der Kultur) einberufen worden war, behandelte das Politbüro den Entwurf des Volkswirtschaftspianes für das Jahr 1966, und die Staatliche Plankommission wurde erneut kritisiert. Erich Apel erhielt zwar vorsichtige Unterstützung durch einige ZK- und Regierungsmitglieder, wie Werner Jarowinsky, Willi Rumpf, Günther Sieber und Grete Wittkowski, auch atmosphärisch

war in diesen Monaten nicht zu erwarten, daß mit Apels Abberufung auf der bevorstehenden Tagung des ZK zu rechnen war. Den Gedanken, vor dem Plenum als Versager dazustehen, verkraftete Apel offensichtlich nicht.

Die Gründe, die einige Westzeitungen damals anführten, daß Apel die Nerven verloren haben soll (er wollte das Abkommen mit der UdSSR nicht unterschreiben bzw es sei bekannt geworden, daß er zeitweilig im berüchtigten Lager Dora gearbeitet hätte) sind schlicht falsch. Im Lager Dora war er nur sehr kurze Zeit tätig, und nach der Evakuierung aus Peenemünde hatte Erich Apel seine Arbeit am deutschen Raketenprogramm in der Waggonfabrik „Linke und Hoffmann“ in Breslau fortgesetzt. Außerdem war seine Tätigkeit während des Zweiten Weltkrieges der Parteiführung bekannt, so daß er keine Enthüllungen zu befürchten brauchte. Was das schon erwähnte Abkommen mit der Sowjetunion betraf, so hatte er mehr Ärger im Inneren mit seinen Kritikern, denen er im Kampf um höhere Rohstofflieferungen zu burschikos mit seinen sowjetischen Partnern umgegangen war, als damit, daß die sowjetische Seite zuwenig lieferte. Mit Recht hat er nach der Beendigung der Wirtschaftsverhandlungen mit der Sowjetunion das Erreichte als sein Verdienst und einen Erfolg der Staatlichen Plankommission angesehen und war wie er mir wenige Minuten vor seinem tragischen Selbstmord am Telefon erklärte - sehr stolz auf dieses Abkommen.

Am 3. Dezember 1965, kurz nach Arbeitsbeginn, erschoß sich Erich Apel in seinem Arbeitszimmer im Haus der Ministerien mit seiner Dienstpistole. „Erich Apel hat sich vor Mittag erschossen“, sagten einige zynisch, die das Gespann Apel/Mittag gefürchtet hatten. Mittag .erbte“ nun Apels Prestige und wurde durch seinen Einfluß auf Walter Ulbricht zu einem mächtigen Mann. Kurz vor seinem Tod hatte mich Apel, wie schon erwähnt, an* gerufen und gebeten, am Nachmittag -mit ihm zur- Unterzeichnung des Abkommens mit der UdSSR für den Zeitraum 1966-1970 zu kommen, und nun standen wir erschüttert vor einem Toten.(...)

Sein tragischer Tod rief große Trauer hervor. Unter diesen Umständen wollte nun niemand mehr auf dem Plenum des ZK eine Auseinandersetzung über die Mängel in der Arbeit der Staatlichen Plankommission und der Regierung führen, und so konzentrierte sich die Beratung auf die vorbereiteten Fragen zur Kulturpolitik. Die heute oft als „Kulturplenum“ bezeichnete 11. Tagung war jedoch kein Ersatz für die ausgefallene Schelte an den Wirtschaftlern, sondern eine geplante, die Vielfalt der Kultur stark einschränkende Tagung, mit dem Ziel einer scharfen ideologischen Indoktrinatjon.

Die Parteiführung beschloß, den Einfluß der Staatlichen Plankommission zu vermindern und die Regierung sowie den Ministerpräsidenten als Hauptverantwortlichen für die Wirtschaft zu betrachten, was solange gut ging, bis es neue Spannungen gab. Ich wurde zum Nachfolger Erich Apels bestimmt, blieb aber zunächst Minister und wurde auch nicht zum Stellvertreter des Ministerpräsidenten berufen.(...)

Ich selbst hatte nie solch ein dramatisches Verhältnis zur Kritik, daß ich mein Leben aufs Spiel gesetzt hätte. Mein Grundprinzip war, daß es gut für eine Sache ist, wenn der Kritiker recht hat und ich meine Auffassung entsprechend ändere. Wenn der Kritiker aber Unrecht hat, kann er reden was er will, und ich kann sowieso nichts daran ändern. Mein Geld kann ich auch als Pilot verdienen und wenn auch das nicht geht, bin ich immer noch ein gut ausgebildeter Schlosser. Den Einschuß in der Holzwand oder besser die dort eingesetzte Intarsie im Arbeitszimmer von Erich Apel, das nun mein Arbeitszimmer wurde, habe ich immer dann betrachtet, wenn ich in die Mühlen der Kritik geriet. Niemals, so schwor ich mir, gehst du diesen Weg. Niemals, egal welche Schwierigkeiten auch auf dich zukommen werden, kapitulierst du.

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