- Politik
- Es gab keine Erotik beim Schlangestehen, und es gibt keine auf dem Arbeitsamt
Der Ostmann – zu Unrecht gedemütigt
Foto: JOACHIM FIEGUTH
schen Fernsehens kannten. Kein Grund zur Aufregung, beruhigt, eine (natürlich westdeutsche) Managerberaterin die vermeintlich erfolglosen Ostmänner in den „Stiefbrüdern“- Ihr müßt euch einfach besser verkaufen, müßt eure äußere Selbstdarstellung verbessern. Das ist der wichtigste Trumpf eures verstellungsgeübten West(stief)bruders, der ihm jenen kommerziellen Erfolg brachte, der bekanntlich erotisch macht.
In der Tat waren viele Ostfrauen nach der Wende bereit, bedenkenlos ihre gewohnten sozialen und emotionalen Bindungen aufzugeben - in der trügerischen Hoffnung auf einen partnerschaftlichen Neuanfang im gelobten altbundesdeutschen Land. Daß dies manchen Ostmann auf die Palme bringt, ist verständlich. Mit drastischen Worten macht ein ostdeutscher Liedermacher seinem Ärger Luft: „Es gibt nichts Feigeres und Hinterhältiges als den gemeinen Westmann!“ Die Erotik des Geldes und der Macht, ergänzt der Hallenser Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz, läßt den Ostmännern gegenwärtig wenig Freiraum, „ihre weicheren Tendenzen zu entfalten“
„Werden die ostdeutschen Männer“, fragt er weiter, „die gewonnene Selbstverständlichkeit, Frauen - auch im Berufsleben - als gleichwertige Partnerinnen zu betrachten, im männerdominierten Konkurrenzkampfaufgeben?“ Niemand wird bestreiten, daß das Selbstbewußtsein des Ostmannes im Zuge der Vereinigung spürbar gelitten hat. Zu oft wurde er belächelt, mitunter sogar gedemütigt. Derart in Bedrängnis geraten, flüchten viele Ostmänner in die ihnen empfohlene „echte“ Männlichkeit. Man muß deshalb gar befürchten, daß sie ihr Defizit an Selbstwertgefühl dort auszugleichen versuchen, wo es scheinbar am einfachsten geht - bei der eigenen Frau nämlich? Leben im Osten Deutschlands am Ende die alten patriarchalischen Familienstrukturen wieder auf?
Die Umfragen sprechen (noch) dagegen: Fast drei Viertel aller ostdeutschen Männer gestehen ihren Frauen die gleichen beruflichen Chancen zu wie sich selbst. Sie treten für gleiche Aufgabenteilung bei der Kinderbetreuung und im Haushalt ein. Nach der deutsch-deutschen Vereini-
gung sind offenbar auch viele Westmänner nachdenklicher geworden. „Mir kommt's so vor, als projizieren wir unsere Träume in den potentiellen Ostmann“, gesteht ein Mitarbeiter des (West-)Berliner Männerforschungsprojektes „Dissens“ Man höre: Die Zahl der Männer, die nicht mehr „schuld“ sein wollen an der patriarchalischen Demütigung der Frau, nimmt deutschlandweit zu. Bereits 46 Prozent der befragten Westmänner plädieren für eine prinzipielle Gleichstellung zwischen Mann und Frau, sowohl im beruflichen als auch im häuslichen Bereich. Wenigstens hier deutet
sich eine soziale Veränderung an, die maßgeblich vom Osten inspiriert wurde. Diesen hoffnungsvollen Trend bestätigen auch neuere Umfrageergebnisse des Berliner Soziologen Walter Hollstein: Danach wollen 25 Prozent der von ihm befragten Männer kein Hausmütterchen als Frau. Dem steht leider die Tatsache gegenüber, daß rund 40 Prozent der Männer verängstigt von der neuen Weiblichkeit sind und sich deshalb in sexuelle Abstinenz flüchten.
Daß man im Osten ohnehin sexuell unbeschwerlicher, ja lustvoller lebte, wird Katrin Rohnstock nicht müde, in ihren
Büchern zu betonen. Gewiß, der DDR-Mensch war in Liebesangelegenheiten relativ frei von ökonomischen Abhängigkeiten und Zwängen. „Die Geschlechter- und Sexualverhältnisse waren im Wesen keine ökonomisch-finanziellen Verhältnisse mehr“, betont auch der Leipziger Sexual- und Jugendforscher Kurt Starke. Und weil man existentielle Dinge oft erst dann schätzen lernt, wenn sie plötzlich nicht mehr gefragt sind, stellen viele Menschen im Osten heute verbittert fest, daß die Rationalisierung und Quantifizierung aller sozialen Beziehungen zu einer emotionalen Verarmung ihres Lebens
geführt hat. „Eine Gesellschaft“, so Rohnstock, „die alles beobachtet und analysiert, die aus jeder menschlichen Regung eine Theorie konstruiert, ist am Ende ohne jedes Geheimnis.“
Zugegeben, in der DDR waren Arbeits- und Familienleben enger miteinander verknüpft als heute. Man verbrachte gemeinsam den Urlaub im FDGB-Ferienheim oder traf sich unbeschwert und nackt am FKK-Strand. Nur: Liefen deshalb die Uhren der Erotik im Osten langsamer, wie Rohnstock allen Ernstes behauptet? „Ohne Druck sind Augen und Seele offen für Entdeckungen: In der Einkaufsschlange kein genervtes Vergleichen der Preise. Sondern: ein Mann mit fröhlichen Augen, einem spitzbübischen Lächeln. Zeit für einen Flirt.“ Leider, muß ich sagen, habe ich in einer solchen Einkaufsschlange niemals gestanden. Zwar verglich der DDR-Bürger vor den Konsum- oder HO-Geschäften nicht die Preise, dafür war er sorgsam darauf bedacht, daß keiner sich vordrängelte. Die DDR-Gesellschaft war infolge des ungleich verteilten Mangels ebensowenig erotisch wie es die neue Gesellschaft infolge des ungleich verteilten Überflusses ist. Will sagen: Es gab keine Erotik beim Schlangestehen, und es gibt keine Erotik auf dem Arbeitsamt. Vielmehr ist zu befürchten, daß die Erotik, von ihrer kommerziellen Vermarktung einmal abgesehen, zu einem industriegesellschaftlichen Nischenphänomen verkümmert. Wer pausenlos auf Geld und Erfolg aus ist, der hat verständlicherweise weder Zeit noch Muße für Gefühle. Ein Trend, der in der zunehmenden „Versingelung“ unserer Gesellschaft einen soziologisch prägnanten Ausdruck findet.
Große Unterschiede zwischen Ost und West bestehen weiterhin im Sexualverhalten und bei der sexuellen Emanzipation der Geschlechter. Die jungen Männer aus dem Westen leben sexuell enthaltsamer und „psychologisieren“ ihre Sexualität stärker als ihre ostdeutschen Altersgenossen, stellt der Hamburger Sexualforscher Gunter Schmidt fest. Sie vergessen vor lauter Problemen und Risiken die Lust an der Liebe. Ein ähnliches Bild zeigt sich bei den Mädchen. Die aus dem Osten sind häufiger koituserfahren und
beschreiben den Geschlechtsverkehr als lustvoll, befriedigend und erlebnisreich. Ganz im Gegensatz zu den West' mädchen, die vorrangig darauf bedacht sind, niemals die Kontrolle über ihre sexuellen Aktivitäten zu verlieren.
Die Ostdeutschen, ergänzt Kurt Starke, sind alles andere als ein „sexuell rückständiges Teilvolk“ In den 70er Jahren wurde auch in der DDR die Sexualität enttabuisiert und entpolitisiert. Ein flächendeckendes Netz von kostenlosen Eheund Sexualberatungsstellen entstand. Und daß 96 Prozent der über 40jährigen DDR-Frauen Pillenerfahrung hatten, war Weltrekord. Frauen und Männer besaßen in der DDR mehrheitlich partnerschaftliche und familiäre Vorstellungen von sexuellen Beziehungen. In der Familie hatte der Mann überdies seine dominante Stellung als Oberhaupt und Ernährer verloren, was wiederum einen deutlichen Rückgang der innerfamiliären Gewalt zur Folge hatte - sowohl zwischen den Eheleuten als auch zwischen Eltern und Kindern. Die meisten sexuellen und familiären Besonderheiten des Ostens haben sich als äußerst wendestabil erwiesen: Weder ist die Partnermobilität der Ostdeutschen größer, noch ihre sexuelle Aktivität geringer geworden. Frauen und Männer, die weitgehend in der DDR sozialisiert wurden, suchen lustvolle Sexualerlebnisse bevorzugt mit dem vertrauten Liebespartner. Anders die jüngere Generation: Sie richtet ihr Liebesleben bereits mehrheitlich an der „öffentlichen Sexualisierung des bundesdeutschen Alltags“ aus.
Die Hektik der Industriegesellschaft zehrt an den Kräften der Wohlstandsbürger: Nur noch vier Prozent der Westdeutschen sind mindestens einmal am Tag sexuell aktiv Da liegen die „betulich-altmodischen Ostler“, wie der Berliner Kunsthistoriker Dietrich Mühlberg scherzhaft seine Landsleute nennt, von denen es etwa 13 Prozent noch täglich miteinander treiben, im Systemvergleich klar vorn. Sie sind, was nicht unbedingt zu erwarten war, die „sexuell agileren und mobileren Deutschen“
Ohne Zweifel: Die Bücher des „Ost-Westlichen Diwans“ sind ein Stück provozierender deutsch-deutscher Kultur- und Alltagsgeschichte. Und sie machen vor allem eines deutlich: Mögen die Lebenserfahrungen in Ost und West auch noch so verschieden sein, ihr Widerstreit ist, wenn man ihn produktiv austrägt, keine Katastrophe, sondern eine Chance zum gemeinsamen Neuanfang. Das meint auch Maaz, wenn er den „Stiefbrüdern“ rät: „Wir Ostmänner haben nicht mehr von den Westmännern zu lernen als diese von uns. Dies einzusehen, wäre bereits die Revolution der Verbrüderung.“ Wohl wahr, und doch so schwer zu machen.
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