Der Durrani-Spross auf dem Thron von Kabul

In Afghanistan hat die Stimmenauszählung noch nicht einmal begonnen, doch Kanzler Schröder hat Hamid Karsai bereits zum Sieger der Präsidentschaftswahlen erklärt

  • Jürgen Cain Külbel
  • Lesedauer: 7 Min.
In Afghanistan kursieren verschiedene Beinamen für Interimspräsident Hamid Karsai, der am Montag von dem Asienreisenden Schröder gleichsam in den Himmel gehoben und noch vor Beginn der Stimmenauszählung zum Wahlsieger erklärt wurde. Für die einen ist er eine »Marionette der USA«, für andere der »Bürgermeister von Kabul« oder auch der »Gucci-Präsident« - frei nach Tom Ford, Chefdesigner der Edelmarke, der ihn als den »schicksten Mann des Planeten« bezeichnete.
Obwohl Karsai wie der geborene Diplomat zwischen Weißem Haus, Downing Street, Rom, Peking oder Tokio wandelt, haben seine Landsleute Gründe, dem smarten Mann nach wie vor zu misstrauen. Vom Westen hofiert, verlieh ihm kürzlich auch der Verein Werkstatt Deutschland den »Quadriga«-Preis, weil mit ihm die »Utopie friedvoller Zeiten« für die Afghanen Realität werde. Aber den durch viel Leid gebeutelten Menschen am Hindukusch kommt der hoch gewachsene, beinahe kahlköpfige Beatles-Fan mit dem sorgfältig gestutzten Bart, der Rolex am Handgelenk, den italienischen oder englischen Schuhen, dem britisch geschnittenen Jackett unter langem grünen Seidenumhang wenig afghanisch vor.

Flucht nach Pakistan, Studium in Indien

Hamid Karsai, ethnischer Paschtune und moderater Muslim, wurde 1957 als Spross der Popolzai geboren, einer Familie der Durrani-Stämme, die seit 1747 die afghanischen Könige stellen. Der Großvater diente dem letzten König Mohammad Zahir Shah als Präsident des Nationalrates, der Vater als Senator und Parlamentssprecher. Der junge Karsai besuchte das Kabuler Habibia-Gymnasium, wo Sibghatullah Mudschaddidi lehrte, ein Theologe, der bereits in den 60er Jahren wegen Widerstandes gegen den vermeintlich pro-sowjetischen Kurs der Regierung im Gefängnis saß.
Als nach der Machtübernahme der Demokratischen Volkspartei Afghanistans Präsident Taraki 1979 gestürzt wurde und die Sowjetarmee daraufhin einmarschierte, floh die Familie Karsai nach Pakistan. Viele junge Afghanen blieben im Land und kämpften als Mudschaheddin einen Guerillakrieg gegen Regierungsarmee und Sowjets.
Der damals langhaarige, Glockenhosen tragende Karsai schrieb sich an der Himachal Pradesh Universität im indischen Shimla in Politikwissenschaft ein und legte dort 1983 das Masterexamen in Internationalen Beziehungen ab. Dann schloss er sich dem Widerstand an, agierte aus dem pakistanischen Exil als Sprecher einer Mudschaheddin-Gruppe, wurde Director of Operations der Afghanischen Befreiungsfront, die sein Lehrer Mudschaddidi gegründet hatte, und freundete sich mit Offiziellen des pakistanischen Geheimdienstes ISI an. ISI-Mitarbeiter Ahmed Bashir stellte ihn 1984 dem Geheimdienstchef Akhtar Abdur Rahman Khan vor, der ihn wiederum mit CIA-Chef Casey bekannt machte.
Karsai fungierte in der Folge als Hauptkontaktmann zwischen Mudschaheddin-Gruppen, USA-Regierung und CIA. Der pakistanische Geheimdienst kaufte mit Drogengeldern Waffen, Karsai baute Nachschublinien auf, regelte und sicherte die Waffenlieferungen an die Mudschaheddin. Während des Krieges war er fest mit Nancy deWolf Smith liiert, Redakteurin von Radio Free Europe/Radio Liberty und Voice of America. DeWolf Smith arbeitete damals im pakistanischen Islamabad als Kriegsreporterin.
Als die Sowjetarmee Anfang 1989 aus Afghanistan abzog und das linksnationalistische Regime unter Dr. Mohammad Najibullah zurückließ, finanzierte die CIA den Umzug von Karsai samt Brüdern in die USA, die dort promovierten und mit einer Restaurantkette zu Reichtum gelangten. Während Hamid Karsai die Jura-Ausbildung abrundete, entthronten die Mudschaheddin 1992 Najibullah und setzten Mudschaddidi als Interimspräsidenten ein. Der pakistanische Geheimdienst nutzte seinen Einfluss auf den Interimspräsidenten und lancierte Karsai als Stellvertretenden Außenminister in das Kabinett.
Als unter der Folgeregierung von Prof. Burhannudin Rabbani Machtkämpfe ausbrachen, lokale Kriegsfürsten das Land in Schutt und Asche legten, erschienen die Taliban auf dem politischen Tableau und griffen - von den Saudis finanziert, von ISI, CIA beraten und logistisch unterstützt - in die Kämpfe ein. Sie baten Karsai um Hilfe. Der beschaffte den Koranschülern Geld, Waffen und politische Legitimation. Karsai quittierte allerdings 1994 den Posten als Stellvertretender Außenminister. 1996 nahmen die Taliban Kabul, Mullah Omar deklarierte den islamischen Gottesstaat und bot Karsai das Botschafteramt bei den Vereinten Nationen an.

Auf der Gehaltsliste einer UNOCAL-Tochter

Karsai lehnte ab, der anfängliche Enthusiasmus für die Gotteskrieger war abgeflaut und er hatte sich anders orientiert. Er stand nunmehr auf der Gehaltsliste der Ölfirma El Segundo, der kalifornischen UNOCAL Corporation zugehörig, die auch finanzielle Interessen der Bush-Familie vertritt. Als Top-Berater unterstützte er den UNOCAL-Konzern, der Verhandlungen mit den Gotteskriegern über den Bau einer Öl- und Gasleitung von Turkmenistan via Afghanistan nach Pakistan führte.
Die Gegenseite vertrat Laila Helms, PR-Beraterin und Leiterin des damaligen diplomatischen Büros der Taliban in New York. Sie ist die Enkelin von Faiz Mohammed Zikira, dem letzten afghanischen Außenminister unter König Zahir Shah und zufällig auch mit dem Neffen des ehemaligen CIA-Direktors Richard Helms verheiratet. Karsai saß bei den Verhandlungen für UNOCAL also einem Abkömmling des eigenen Clans gegenüber.
Karsai wandte sich vollends von den Taliban ab, als Osama bin Laden und Al Qaida zunehmend Einfluss auf die Politik Mullah Omars gewannen. Vom pakistanischen Quetta aus kontaktierte er ab 1997 afghanische Exilanten und die Nordallianz, die Hauptkraft innerhalb Afghanistans gegen die Taliban, um Unterstützung für die Wiedereinsetzung von König Zahir Shah zu erheischen. Mehrmals flog er in die USA, um mit hochrangigen Leuten der CIA, des State Department und der Regierung die Planungen für eine groß angelegte verdeckte Operation voranzutreiben, die einen Volksaufstand gegen die Taliban in Afghanistan provozieren sollte. 1999 versuchte er, paschtunische Stammesfürsten für dieses Ziel zu gewinnen. Die Taliban bekamen davon Wind, übten Rache und erschossen Karsais Vater.
Als die »Antiterror-Koalition« unter Führung der USA als Reaktion auf den 11. September 2001 die Taliban und Al Qaida am 7. Oktober 2001 in Afghanistan angriff, gaben Verteidigungsminister Rumsfeld und CIA-Direktor Tenet grünes Licht, das Karsai mit drei Männern die Grenze zu Südafghanistan überschreiten solle, um paschtunische Fürsten zum bewaffneten Volksaufstand gegen die Taliban zu ermutigen und deren Zustimmung für den früheren König Zahir Shah einzuholen.
Angeblich wurde die Gruppe von hunderten Taliban attackiert und USA-Hubschrauber hätten Karsai in letzter Sekunde herausgeflogen. In den Kabuler Teestuben witzelt man über die Story. Karsai, der sich in seiner Luxusvilla in Pakistan verkrochen hatte, wo er mit unzufriedenen Emigranten grantelte, grünen Tee schlürfte und süße Mandeln naschte, sei nie ein Kämpfer gewesen.
Unter enormem Druck von UNO und USA einigte sich die Afghanistan-Konferenz auf dem Petersberg bei Bonn am 5. Dezember 2001 gegen den Willen vieler Konferenzteilnehmer auf Hamid Karsai als Chef der Übergangsregierung. Der geschickte Diplomat, der in der engen Bindung an die USA das wesentliche Element seiner Politik sieht, hatte es eilig und ratifizierte bereits im Mai 2002 das trilaterale Abkommen über die Multimilliarden-Dollar-Gas-Pipeline von Turkmenien über Afghanistan nach Pakistan mit den Präsidenten beider Länder und wünschte, dass UNOCAL die Pipeline baut. Am 24. Juni 2002 bestätigte die Loya Jirga, die Große Ratsversammlung der Afghanen, Karsai als Interimspräsidenten. König Zahir Shah, der noch bis kurz davor in Rom gewohnt hatte, sollte Regent des Landes werden, doch die USA intervenierten und befahlen ihm, die Kandidatur zurückzuziehen. Der 87-jährige Monarch, der sowieso lieber Schach spielt und guten Kaffee trinkt, trat ohne Murren ab.
Die Delegierten der Loya Jirga kritisierten das antidemokratische Verfahren, das von Manipulationen ausländischer Beobachter, Schikanen regionaler Kriegsherren und Geheimdienstoffizieren begleitet wurde. Enttäuscht, misstrauisch ob des ausländischen Einflusses, verärgert über Drohungen und Einschüchterungen stürmte am 17. Juni ein Großteil der Delegierten aus der Versammlung. Karsai war nie geplant, die Amerikaner hatten ursprünglich auch den paschtunischen Stammesführer Abul Haq bevorzugt. Den aber hatten die Taliban geschnappt, gefoltert und hingerichtet. Vielleicht ist das der Grund für die schnelle Metamorphose des noch im Jahre 2000 Rauschebart und Turban tragenden Muslim Karsai zum weltmännischen und modebewussten Politiker.

Bewacht von den DynCorp-Bodyguards

Heute will Karsai, so sein Anspruch, das Land am Hindukusch zur Demokratie führen. Zu diesem Zweck schart er im Westen ausgebildete Exilafghanen um sich, doch die Landsleute fühlen sich von diesen »Ausländern« nicht vertreten. Nach wie vor beschränkt sich Karsais Machtbereich auf Kabul und wenige Provinzen - auch wenn er in jüngster Zeit etwa den westafghanischen Provinzfürsten Ismail Khan als Gouverneur abgesetzt hat. Islamisten, mächtige Warlords, süd- und ostafghanische Führungspersönlichkeiten, die ungenügend in Regierungsaufgaben eingebunden sind, verweigern sich oder rebellieren.
Auch innerhalb der bisherigen Regierung tobte ein verbissener Machtkampf, Karsai hat nicht wenig Feinde. Seit Monaten wird er von Bodyguards der USA-Sicherheitsfirma DynCorp bewacht, die zwar verschiedene Anschläge verhindern konnten, aber in der vergangenen Woche bei einem Wahlkampftrip Karsais sehr alt aussahen. Nach einem Raketenanschlag auf das Flugfeld von Gardez konnte der Präsidentenhelikopter gerade noch entweichen.
Beim Präsidentenvotum am Sonnabend hat wohl die Tintenaffäre nicht verhindert, dass der Durrani-Spross künftig als gewähltes Staatsoberhaupt im Kabuler Präsidentenpalast thront. Ob er schon im ersten Wahlgang mehr als die Hälfte der Stimmen erhalten hat, wie Kanzler Schröder wissen wollte, wird sich zeigen.

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