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Der Traum vom »Reformsozialismus«

Eine Gesprächsrunde bei ND LIVE auf der Suche nach dem dritten Weg

  • Lesedauer: 8 Min.

? »Reformsozialismus« - das ist ein schillernder Begriff. Die Auffassungen über Konzepte und praktische Politik gegen weit auseinander. Wo, Herr Mlynar, setzen Sie an?

Mlynar- 1968 hat die KP in der Tschechoslowakei versucht, eine demokratische Reform von oben mit der Entwicklung der Freiheiten von unten zusammenführen. Daß dieser »Frühling« gerade in Prag begann, hat historische Ursachen. Wir waren das einzige Land des damaligen Sowjetblocks, in dem die Kommunisten im Jahre 1946 ohne Anwesenheit der Roten Armee aus freien Wahlen als stärkste Partei hervorgegangen waren, mit den Sozialdemokraten zusammen hatten sie die absolute Mehrheit. Die Zeit bis 1948 könnte man durchaus als eine Phase des demokratischen Sozialismus bezeichnen. Die Mehrheit der Großbetriebe, Banken usw stand unter demokratischer staatlicher Kontrolle, und es gab einen kapitalistischen Sektor. Obwohl dann im Kalten Krieg Jahrzehnte der Machtmonopolisierung der KP folgten, die unter Sozialismus ein System sowjetischer Bauart verstand - die tragende Generation des »Prager Frühlings« hatte diesen frühen Versuch, politische Demokratie und Sozialismus zu vereinen, ja noch erlebt.

Wir wollten 1968 nicht die Zerstörung des Gesellschaftssystems. Wir wollten auch nicht mit einem Mehrparteiensystem beginnen, in dem unweigerlich der Streit um die Macht die Tagesordnung bestimmt hätte. Wir wollten erst einmal' bei der Erweiterung der Demokratie durch andere Formen, durch Arbeiterselbstverwaltung, durch regionale Selbstverwaltung, durch Interessenverbände, durch Meinungs- und Pressefreiheit bleiben. Ein Mehrparteiensystem sollte sozusagen Resultat der Demokratisierung sein.

Wir gehörten zum »sozialistischen Weltlager«, das war doch eine Realität. Und Sozialismus war als antikapitalistisches System zu begreifen. Wir wollten auch nicht den Weg des Nationalkommunismus gehen, wollten nicht Jugoslawien imitieren. Ich war immer der Meinung, entweder dieser sowjetische Sozialismus wird reformiert, aber dann inklusive Sowjetunion, oder er wird scheitern. Und in der Tat ist alles zerstört worden, was man hätte reformieren können. Auch das, was besser war als in jenem System, in dem wir jetzt leben.

? Haben Sie diese 68 als reformsozialistisches Konzept begriffen, Herr Rakowski?

Rakowski: Wir haben die Entwicklung in der Tschechoslowakei genau beobachtet und gehofft, daß es die Genossen dort schaffen. Aber so wie die Tschechoslowaken ihren »Prager Frühling« hatten, hatten wir den »Polnischen Oktober«. Das war 1956. Polen galt ja mit Ungarn als »lustigste Baracke im sozialistischen Lager«. Auch bei uns war manches anders: private Landwirtschaft, private Handwerker - über 400 000 kleine Werkstätten -, eine sehr starke katholische Kirche, in den beiden anderen Par-

teien im Lande wuchs eine gewisse Neigung zur Selbständigkeit - das polnische Modell des Sozialismus hatte seine Besonderheiten. Auch wenn wir von Reformen und Reformern erst in den 80er Jahren sprachen, Ansätze gab es schon früher

Nur hatten wir eine große Schwäche: Wir blickten immer ängstlich Richtung Sowjetunion. Und wir waren im Glauben erzogen worden, daß die Partei einig sein müsse, daß jede fraktionelle Tätigkeit etwas Schlimmes sei. Deshalb fehlte den Reformer der Mut, offen nein zu sagen. Und als in den 70er Jahren unter Gierek auf verschiedenen Gebieten - im Vergleich zum »frommen Sozialismus« Gomulkas zuvor - tiefgreifende Veränderungen begonnen wurden, war das schon

Modrow: Die Situation in der DDR war sehr widersprüchlich. Auf der einen Seite gab es die große Debatte um ein neues ökonomisches System der Planung und Leitung. Ich etwa kann von mir in dem hier gebrauchten Sinne sicherlich nicht davon sprechen, in den 60er Jahren ein Reformer gewesen zu sein. Aber ich kann von mir sagen, daß ich in jener Zeit eine Doktorarbeit verfaßt habe, die sich mit Fragen der Auswahl, der Entwicklung von Leitungs- und Führungskadern beschäftigte, die Teil eben dieser Überlegungen für neue Wege in der DDR waren. Das ging mit 68 zu Ende. Wobei Zdenek Mlynar schon darauf verwiesen hat, daß seine Reformvorstellungen damals nicht nur die Ökonomie betrafen, sondern das, was wir heute »demokratischen Sozialismus« nennen. Und dann war da, aber

auch das ist schon erläutert worden, der große Bruder im Osten. Was uns, was auch mich betrifft, würde ich nur sagen, wir hatten weniger Ängste, wir waren da mehr auf Linie. Und genau das ist das Problem der DDR.

Eines muß man allerdings auch sagen: Ja, wir haben uns eingemischt in der Tschechoslowakei, etwa über Rundfunksendungen. Aber wenn heute immer behauptet wird, NVA-Truppen hätten am Einmarsch teilgenommen, dann muß man mit aller Entschiedenheit sagen, es war lediglich ein ganz kleiner Trupp von Nachrichtenleuten einbezogen. Ulbricht hat sich damals mit dem Standpunkt durchgesetzt, daß deutsche Truppen schon aus historischen Erwägungen heraus nicht in die CSSR gehen dürfen. Aber natürlich standen wir zugleich voll auf der Seite der Sowjetunion.

Auch in den 80er Jahren haben wir uns in der DDR, auch innerhalb der SED, mit dem Gedanken der Umgestaltung beschäftigt. Die Gruppe um Dieter Klein an der Humboldt-Universität gehörte dazu. Das alles dann schon unter dem Einfluß

des Studienkollegen von Zdenek Mlynar, unter dem Einfluß von Michail Gorbatschow

? Ein Vorwurf an die Reformer ist ja, daß sie eigentlich Reformismus betrieben und damit letztlich die Grundlagen für eine sozialistische Gesellschaft zerstört haben. War die Perestroika ein solcher Versuch?

Mlynar: Die Frage ist doch, was reformiert werden soll. Wir haben versucht, das Sowjetsystem zu reformieren. Obwohl das wirklich keine Verkörperung der sozialistischen Ideale war, war es doch immerhin ein nichtkapitalistisches System. Unser Modell war kein Kapitalismus. Es war ein Versuch, etwas anderes zu finden. Und die Perestroika? In der Tat, als da Gorbatschow antrat, gab es schon die Hoffnung, daß nun auch im Mutter- und Vaterland des Systems ein Reformversuch unternommen wird. Um es deutlich zu sagen: Für mich ist Michail Sergejewitsch kein Verräter des Sozialismus. Er ist ein Mensch, der nicht in der Lage war, diese riesige Aufgabe, das System zu reformieren, zu bewältigen. Und bitte schön, wie auch? Der Gebietssekretär aus der Provinz? Er hatte vielleicht guten Absichten, aber mit denen ist bekanntlich der Weg zur Hölle gepflastert.

? Herr Rakowski, heute sind in Polen Politiker in der Regierung, mit denen Sie noch gemeinsam eine ganz andere Partei führten. Ist das der historische Fortschritt: Von der Reform des Sozialismus zur Reform des Kapitalismus?

Rakowski: Wir wollten in den 70er und 80er Jahren schon das System reformieren - aber eigentlich hatten wir keine klare Vorstellung, was dabei herauskommen sollte. Und zweitens war dabei die führende Rolle der Partei weiter Dogma, wir wollten das System von oben reformieren. Erst Anfang 1989 haben wir zum ersten Mal auf diese führende Rolle verzichtet. Ja, wir haben freiwillig die PVAP aufgelöst und 1990 eine sozialdemokratische Partei gegründet. Und wir haben damals mit keiner Silbe daran gedacht, daß die Linke schon wenige Jahre später wieder an die Macht kommen würde. Dafür haben die Rechten gesorgt, mit ihrer Schocktherapie.

Aber was nun? In unserem Programm gibt es den Begriff »demokratischer Sozialismus«. Doch sonst? Im Alltag benutzt ihn niemand. Ja, die Linke in Polen, so

wie die in Ungarn, gestaltet Kapitalismus. Sicher, eine Ironie der Geschichte. Aber ich denke, Aufgabe der Linken in Polen ist heute eben der Kampf um das »menschliche Gesicht des Kapitalismus«. Nichts mehr. Die Gesetze der Marktwirtschaft kann man nicht außer Kraft setzen. Ich glaube nicht, daß man bei uns mit sozialistischen Losungen Einfluß und Wahlen gewinnen kann. Und dann ist da auch eine neue Generation von Politkern, rein pragmatisch. Darf ich sie kritisieren? Unser realer Sozialismus war schließlich am Ende. Es hat sich gezeigt, wir waren auf dem falschen Weg. Oft waren wir schrecklich dumm, schrecklich begrenzt. Aber auf der anderen Seite haben wir auch so viele Errungenschaften geschaffen, daß es heute unmöglich ist, zum »reinen« Kapitalismus zurückzukehren.

Mlynar: Ich denke, der Grundfehler unseres Verständnisses von Sozialismus und Kapitalismus bestand darin, daß man sich beides als geschlossene Systeme vorgestellt hat. Und so gab es plötzlich in der Mongolei Sozialismus, in Schweden aber Kapitalismus. In der modernen Industriegesellschaft gibt es zwei Tendenzen: eine kapitalistische, die vereinfacht bedeutet, das letztlich alles dem Verwertungsprozeß des Kapitals, dem Profit untergeordnet ist. Und dann gibt es eine nichtkapitalistische, vorwiegend sozialistische Tendenz, die andere Bedürfnisse als die des Profits in den Mittelpunkt stellt. Die Hegemonie in dieser Welt hat immer noch die kapitalistische Tendenz. Der Sozialismus aber kann sich nur als Gegentendenz durchsetzen und dafür dann die Mehrheit der Bevölkerung gewinnen. Deshalb bin ich gegen die Formulierung, die Linken müßten heute in den ehemaligen Ostblock-Ländern den-Kapitalismus gestalten. Es gibt genügend Rechte, die das tun.

Ziel der Linken muß es sein, die antikapitalistische Tendenz zu verteidigen und durchsetzen, aber ohne andere Meinungen auszuschließen oder zu unterdrücken. Wie mit dem Kapital umzugehen ist, das wissen die Kapitalisten sicher besser, aber wie mit den Menschen umgegangen wird, das ist unser Feld. Wobei ich gerne zugebe, daß es da die Linke in Gestalt der PDS in Deutschland leichter hat als eine regierende Partei in Polen. Sie muß auch die kapitalistische Tendenz zulassen, auch ganz praktisch an Arbeitsund Weltmarkt, neue Technologien usw. denken.

? Hans Modrow, ist damit nicht genau ein Grunddilemma der PDS berührt, wenn man die augenblickliche Diskussion um Platz und Strategie der Partei verfolgt?

Modrow: Die Frage ist doch, ob der Kapitalismus eigentlich das letzte Wort ist. Die Frage ist, ob es notwendig ist, auch über anderes nachzudenken. Wenn ja, gibt es bei allen Fehlern, all den Irrtümern der Vergangenheit auch Elemente, aus denen zumindest Nachdenken erwachsen kann für das, was künftig in einer Gesellschaft, die eben keine kapitalistische bleibt, erforderlich ist. Und wenn es um die Gesellschaft heute geht - sie wird wie man sehen kann, langsam ein Kapitalismus ohne Arbeit, ein Kapitalismus, in dem fehlende Arbeit am Ende auch Demokratieabbau bringt. Und uns wird eingeredet, wie müßten Verständnis für die vielen Probleme haben. Das erinnert mich daran, was wir - auch ich als SED-Bezirkssekretär - am Ende der DDR praktiziert haben. Doch wenn man sich nicht mehr wehrt, wenn man nicht mehr auf die Straße geht, dann wird dieser Kapitalismus mit den Menschen machen, was er will.

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