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Ein Dorf, zwei Länder, unnötige Probleme
Quer durch die kleine Gemeinde Kümmernitz geht die Landesgrenze zwischen Sachsen-Anhalt und Brandenburg
Von Stefan Tesch
Tritt der Brandenburger Matthias Mertens aus seinem Grundstück, bewegt er sich haarscharf auf dem Grenzstreifen. Denn die andere Seite der nicht mal drei Meter schmalen Dorfstraße gehört zu Sachsen-Anhalt. Und das spüren die Kümmernitzer in fast allen Lebensbelangen.
Vis-a-vis liest man eine andere Regionalzeitung, wählt andere Landespolitiker und schickt seine Kinder in andere Schulen, die natürlich andere Ferienzeiten haben. Täglich zwei Postfrauen aus verschiedenen Postämtern hier Havelberg in Sachsen-Anhalt, dort das brandenburgische Neustadt/Dosse bringen Briefe. Und wehe, Matthias Mertens stellte mal seine Mülltonne zu weit auf die Straße. Prompt bekommt er Ärger mit der sachsen-anhaltinischen Müllabfuhr Für die 21 Brandenburger auf der linken Seite der Dorfgasse ist - natürlich - das märkische Kyritz zuständig.
Eine unsichtbare Wand trennt seit 1831 das gerade 100 Seelen zählende Dörfchen. Drei Viertel gehören heute als Ortsteil von Vehlgast zu Sachsen-Anhalt, der Rest als formaler Sprengel von Breddin ins »Preußische«. Eine schwer nachvollziehbare Teilung, die noch aus Zeiten blaublütiger Kleinstaaterei rührt. In Kümmernitz erzählt man sich von Generation zu Generation jene Geschichte: Ein Mini-Fürst, der sich am liebsten in Casinos herumtrieb, soll vor 165 Jahren Spielschulden Zug um Zug durch seine Ländereien abgegolten habe. Und just in der Dorfmitte war er wieder liquide.
Daß sich diese künstliche Grenze durch alle Zeitenläufte erhielt, ist für die wenigsten Kümmernitzer nachvollziehbar Die meisten fühlten sich bis heute als Opfer provinzieller Kurzsichtigkeit, erzählt Matthias Mertens. Denn es wäre doch logisch gewesen, im Sommer 1990 - bei Neubildung der Länder im Osten - ganz Kümmernitz einem Kreis und damit einem Land zuzuordnen. Egal, welchem.
Doch nichts dergleichen tat sich. Im Gegenteil, schimpfen die Leute, denn mit den föderalen Strukturen sei manches eher verworrener geworden. Und so fürchten sie, daß es auf ewig zweierlei Postleitzahlen (39539 bzw 16845) sowie zweierlei Autokennzeichen (SDL für Stendal bzw OPR für Ostprignitz-Rupin) im Ort gibt. Obwohl Matthias Mertens berichten kann, daß seit 1994 auch die brandenburgischen Kümmernitzer telekom-seitig zu Havelberg gehören und damit zum Ortstarif mit den Nachbarn telefonieren dürfen - ein Erfolg, um den sie lange hatten ringen müssen.
So mußten erst Regierungsbehörden in Magdeburg und Potsdam offizielle Dokumente verabschieden, damit die Kinder des von Sachsen-Anhalt bestallten Revierförsters Uwe Sattelkow grenzüberschreitend in Breddin zur Schule gehen dürfen - wie immerhin schon zu DDR-Zeiten üblich. Maßgebliches Hindernis dafür waren bildungspolitische Landeseigenkeiten: In Brandenburg geht die Grundschule bis zur 6., in Sachsen-Anhalt nur bis zur 4. Klasse. Schließlich einigten sich die Schulämter auf einen Kompromiß: Alle »sachsen-anhaltinischen« Mädchen und Jungen aus Kümmernitz, die ab Försterei ostwärts wohnen, dürfen in den brandenburgischen Schulbus steigen, während die anderen auch künftig ins viel weitere Havelberg fahren müssen.
Auch auf kommunaler Ebene waren hierfür erst Weichen zu stellen, erzählt Torsten Mintus. Der ehrenamtliche Bürgermeister von Vehlgast ist auch für die sachsen-anhaltinischen Kümmernitzer zuständig. Und so mußte er erst gründlich rechnen, ob seine Gemeindekasse diesen Wechsel zuläßt. Denn da Schulen und
Kindergärten von den jeweiligen Kommunen oder Landkreisen getragen werden, erheben sie für »Fremdlinge« von deren Gemeinden Zuschüsse. Das ist nichts Ungewöhnliches - nur liegen jene Gebühren in Brandenburg halt höher als im Nachbarland. Mittlerweile erklärte sich aber der Landkreis Stendal bereit, diese Differenz auszugleichen. Im übrigen aber, so Torsten Mintus, sehe er die Grenze so eng denn auch nicht. Ob nun in die Sprechstunden seine »Altmärker« oder auch mal »Preußen« kämen, sei ihm letzlich gleich. Er helfe jedem.
Förster Uwe Sattelkow verstand es sogar geschickt die Vorzüge eines Zwei-Länder-Dorfes zu nutzen, nicht nur für die Schule seiner Kinder. Unter seiner Ägide entstand mittlerweile rund um Kümmernitz - der »Breddiner Schweiz« - ein reizvoller, lehrreicher Naturpfad. Und sowohl die nötigen Gelder als auch die ABM-Helfer und Schulkinder, die dabei die meiste Arbeit leisteten, stammen von beiden Seiten der anachronistischen Demarkationslinie. Wenngleich dabei auch nicht alles ganz »legal« zuging. Denn selbstredend unterlagen die mit Geldern der jeweiligen Kreise bezahlten ABM-Kräfte stets der Order, nicht außerhalb ihrer jeweiligen Landesgrenzen wirksam zu werden. »Wer wollte das aber je so genau kontrollieren, ob einer schon in Brandenburg oder noch in Sachsen-Anhalt Unterholz auslichtet oder Bäume markiert?« fragt schmunzelnd der Förster Im übrigen handele es sich für ihn ohnehin um einen natürlich gewachsenen Landstrich - die Westprignitz. Eine Sicht, die er mit den meisten im Ort teilt.
Daß indes auch in der Westprignitz recht verschiedene Auffassungen herrschen können, etwa beim Straßenbau, sieht man in der 200 Meter kurzen Grenzgasse, in der Matthias Mertens wohnt. .Zwar hatten sich beide Länder-geeinigt, sie gemeinsam auszubauen. Doch über ein Jahr tobte dann zunächst die Rechthaberei, ob man sie pflastern oder asphaltieren solle. Als endlich das sachsen-anhaltinische Pflaster gesiegt hatte, begannen im von Magdeburg zu verantwortenden Abschnitt auch bald die Arbeiten. Längst waren die Straßenbauer hier wieder weg, da glich das brandenburgische Teilstück noch immer einer märkischen Sandwüste. Der Grund: Das westliche Kümmernitz erhält bereits das dritte Jahr Gelder aus dem Dorferneuerungs-Programm Sachsen-Anhalts, der östliche Ortsteil hingegen war von Potsdam erst zwei Jahre später für förderwürdig erklärt worden.
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