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Wer rettet Brasiliens bellende Wölfe?

Die obstliebenden Allesfresser kommen nur noch selten im Cerrado vor Ihr Lebensraum wird gnadenlos zerstört Von Norbert Suchanek

  • Lesedauer: 5 Min.

Seine dunklen Augen blicken furchtsam zu mir herüber. Vor Erregung ist seine Mähne vom Hinterkopf bis zu den Schultern steil aufgerichtet. Seine dünnen, zur Hälfte farblich vom Körper abgesetzten Beine erinnern an den Präriewolf namens »Socke«, der vor einiger Zeit im Spielfilm »Der mit dem Wolf tanzt« von Kevin Costner berühmt wurde. Doch sind wir nicht am Fuß der Rocky Mountains in der nordamerikanischen Prärie, sondern im sogenannten Cerrado, im brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais. Auch heißt der in dieser weiten Steppenlandschaft Zentralbrasiliens beheimatete Canide (Hundeartiger) nicht Prärie-, sondern Mähnenwolf. Zudem sind die »Socken« des größten Caniden Südamerikas nicht weiß wie die des Präriewolfes, sondern schwarz.

Wissenschaftlich gesehen ist der Mähnenwolf (Chrysocyon brachyurus) trotz seiner äußerlichen Ähnlichkeit und seines Namens auch gar kein Wolf. Tatsächlich wissen die Forscher nicht, wohin mit ihm. Chrysocyon brachyurus heult weder den Mond an, noch lebt er in Rudern. Statt dessen artikuliert er sich mit einem lauten, gedehnten Bellen und ist ein monogamer Einzelgänger. Auch aufgrund von Blut- und Zellkernuntersuchungen läßt er sich innerhalb der Familie der Caniden weder den Füchsen noch den Wölfen oder Haushunden zuordnen, weshalb ihn die Wissenschaft als monotypisch oder auf gut Deutsch einzigartig bezeichnet.

Einzigartig ist auch seine Speisekarte. Nicht umsonst trägt er in der Legende der Kamaiurä-Indianer den Namen »Auaratsim«, was »Der, der Früchte ißt« bedeutet. Das im Schnitt 25 kg schwere

Tier, dessen Beine mit rund 90 cm fast so lang sind wie der ganze Körper samt Nacken und Kopf, ernährt sich zum überwiegenden Teil von Früchten und Kräutern.

Während seiner zweijährigen Forschung im 71 525 ha großen Nationalpark der Serra da Canastra im Süden von Minas Gerais konnte der nordamerikanische Zoologe James M. Dietz zwanzig verschiedene Pflanzenarten ausmachen, die dem Mähnenwolf als Futter dienen. Die mit Abstand wichtigste Nahrungsquelle ist Solarium lycocarpum-, eine bis zu 500 g schwere, im reifen Zustand gelbe, tomatenähnliche Frucht, die im brasilianischen »Lobeira« (Wolfsfrucht) genannt wird. Dennoch ist der Mähnenwolf kein reiner Pflanzenfresser. Dietz bezeichnet ihn, seine Nahrungsgewohnheiten betreffend, als einen »opportunistischen Generalisten«: Der Mähnenwolf frißt, was gerade da ist. Wenn es weniger Früchte gibt, dann eben auch Insekten, Vögel, Nage- und Gürteltiere und manchmal auch ein Huhn, weshalb das in Brasilien Lobo Guarä genannte Raubtier immer wieder von Farmern erschossen oder von Jagdhunden zu Tode gehetzt wird. Teile der erlegten Mähnenwölfe werden aber auch in der brasilianischen Volksmedizin verwandt.

Doch Aberglauben und Jagd sind nicht die eigentlichen Ursachen dafür, weshalb der Mähnenwolf seit 1982 auf der Roten Liste der vom Aussterben bedrohten Tierarten in Südamerika steht.

Die Mähnenwölfe leben in den trockeneren, subtropischen Regionen im Innern Südamerikas, dem sogenannten Chaco Argentiniens und Paraguays, dem Osten Boliviens und den sogenannten Pampas del Heath von Peru und den trockeneren Gebieten im Inneren Brasiliens. Fossilien des Mähneriwolfeä wurden bislang nur

im zentralbrasilianischen Hochplateau gefunden. Deshalb nimmt die Wissenschaft an, daß dort auch seine ursprüngliche Heimat ist. Doch gerade in diesem, von der Vegetationsform des Cerrado geprägten Teils Südamerikas ist sein Überleben heute besonders gefährdet. Per Gesetz ist die Jagd auf Chrysocyon brachyurus in Brasilien zwar bereits seit 1967 verboten. Die Zerstörung seines bevorzugten Lebensraumes aber, des Cerrado, ist paradoxerweise erlaubt und wurde in den 70er und 80er Jahren sogar von der brasilianischen Regierung gefördert.

Man kann den Cerrado mit den Savannen und Baum-Savannen Südafrikas oder mit den von Eukalyptusbäumen geprägten Savannen Nordaustraliens und Südost-Neuguineas vergleichen. Doch die Artenvielfalt der verschiedenen Trockenwaldformationen des Cerrado ist ungleich größer: Mit Ausnahme einiger Regenwaldgebiete ist der Cerrado, gemessen an den höheren Pflanzen, das artenreichste Ökosystem unseres Planeten. So zählten die Pflanzenforscher bei einer Bestandsaufnahme Ende der 80er Jahre im brasilianischen Cerrado über 400 höhere Pflanzenarten pro Hektar. Außerdem sind im Cerrado 110 Säugetierarten, darunter 45 Nagetier- und 20 Raubtierarten, und eben der Mähnenwolf zu Hause.

Die großflächige Zerstörung dieses Ökosystems begann 1960 mit dem Bau der brasilianischen Hauptstadt Brasilia. Sie wurde absichtlich mitten in die Cerrado-Region hineingeplant, um das noch ungenutzte Herzland zu entwickeln. Und Entwicklung bedeutete damals noch ganz selbstverständlich: Ausbeutung, Umwandlung und Zerstörung der natürlichen Vielfalt. Nicht mal dreißig Jahre später waren bereits 37 Prozent der einmaligen Vegetation des Cerrado vernich-

tet. Seine Hauptbedrohung ist die industrielle Landwirtschaft mit ihren Pestiziden, großflächigen Rinderweiden und Sojaplantagen.

Zudem gehen noch immer Hunderte Hektar Cerrado pro Tag als Holzkohle in den Eisen- und Stahlhütten und in den Dörfern und Städten in Rauch und Asche unter. Allein im rund 620 000 Quadratkilometer großen, zentralbrasilianischen Bundesstaat Goias - er ist fast doppelt so groß wie Deutschland - werden täglich 240 Hektar Cerrado in rund acht Millionen Kubikmeter Holzkohle umgewandelt und zur Produktion von Roheisen verheizt. Ende der 80er Jahre formulierte die Wissenschaftlerin Maria Novaes Pinto

von der Universität Brasilia: »Die 90er Jahre werden entweder Zeuge einer substantiellen Änderung der Politik und der öffentlichen Meinung sowie von Naturschutzaktionen sein, oder sie werden das Ende des Cerrados als Ökosystem erleben.«

Schlechte Aussichten also für Chrysocyon brachyurus. Die jüngste Schätzung stammt aus dem Jahr 1974 und geht von etwa 1500 bis 2200 Tieren aus. Leichter als die Zählung der freilebenden Wölfe ist der Zensus der gefangenen Tiere, der jährlich vorgenommen wird. Im Jahre 1994 waren es rund um den Globus verteilt 107 Exemplare des Lobo-Guarä, die in Zoologischen Gärten existierten.

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