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Fehlurteil nach acht Jahren wieder auf dem Prüfstand

IOC will sich mit den Vorgängen beim Boxturnier in Seoul beschäftigen

  • Lesedauer: 5 Min.

Von Volker Kluge

Acht Jahre nach den Olympischen Spielen von Seoul will sich das IOC mit dem Antrag des NOK der USA (USOC) beschäftigen, den Boxer Roy Jones nachträglich zum Olympiasieger zu erklären. Das USOC glaubt über Beweise zu verfügen, daß 1988 manipuliert wurde. Dabei stützt man sich auf Stasi-Aufzeichnungen, deren Aussagekraft aber schon deshalb eingeschränkt ist, weil sie von der Quelle (AIBA-Generalsekretär Karl-Heinz Wehr) nicht autorisiert sind.

Was geschah 1988? Der damals 19jährige Halbmittelgewichtler Roy Jones verlor am 2. Oktober 1988 im Finale gegen den Südkoreaner Park Si Hun nach einem skandalösen 2:3-Urteil. Als »Trostpreis« erhielt er vom Weltboxverband AIBA die Val Barker Trophy als Preis für den »technisch besten Boxer« zugesprochen - nach einer 14.13-Abstimmung zuungunsten von Mittelgewichts-Olympiasieger Henry Maske (DDR), dem tatsächlich überragenden Aktiven in Seoul.

Das klare Fehlurteil war der I-Punkt auf ein Turnier, in dem die südkoreanischen Gastgeber mit Macht versuchten, Medaillen zu gewinnen. Daß heute nur noch über das Jones-Urteil gesprochen wird, mag damit zusammenhängen, weil es in einem Finalkampf passierte. Doch zuvor gab es eine Vielzahl fragwürdiger Entscheidungen, zu denen auch die Siege

Parks über den Schweriner Torsten Schmitz (5:0 - ein offensichtlicher Betrug!) und über den Italiener Vincenzo Nardiello zählten. Trauriger Höhepunkt jedoch war die »Saalschlacht« vom 22. September, als südkoreanische Funktionäre den neuseeländischen Ringrichter Walker verprügelten und Bantamgewichtler Byong Jong II im Ring eine Stunde und sieben Minuten in den Sitzstreik trat, nachdem er gegen den Bulgaren Alexander Christow verloren hatte.

Die AIBA beschäftigte sich noch in Seoul mit den Vorfällen; der Ruf nach lebenslangen Sperren für die Beteiligten wurde laut. Doch je mehr Zeit verstrich, desto weniger blieb davon übrig. Bei der Büro-Tagung der Vizepräsidenten am 3. Dezember 1988 in Frankfurt/Main schlugen Karl-Heinz Wehr und der US-Amerikaner Paul Konnor vor, wenigstens die drei Kampfrichter, die Jones verladen hatten, für immer zu suspendieren. Doch als die AIBA-Exekutive Mitte März des folgenden Jahres in Nairobi zusammentrat, erschien das der Mehrzahl der Mitglieder nach dem Motto »irren ist menschlich« schon längst nicht mehr akzeptabel.

Laut AIBA-Protokoll konterte damals allein Karl-Heinz Wehr Zitat: »Er sei überrascht, daß in keinem der Diskussionsbeiträge die wirklichen Opfer der Fehlentscheidungen, namentlich die Boxer, die nach kontroversen Urteilen verloren, erwähnt wurden. Keiner der Red-

ner plädierte für deren Angelegenheiten und verteidigte jene, die als einzige beraubt und um den Lohn ihrer Mühen gebracht wurden.«

Bei dieser Gelegenheit präsentierte Konnor eine Computerauswertung der NBC-Fernsehaufzeichnung, die aussagte, daß Jones im Finale 303 Treffer austeilte, von denen 86 landeten (28,4 Prozent). Dagegen kam Park nur auf 188 bzw 32 (17,0 Prozent). Außerdem kündigte er an, daß die drei Journalisten Pat Putnam (Sports Illustrated), Ken Jones (Independence) und Michel Rovet (L'Equipe) beeiden könnten, daß der marokkanische Kampfrichter Hiouad Larbi von den Südkoreanern bestochen worden war.

Konnor beantragte damals, Jones nachträglich zum Olympiasieger zu ernennen und Park die Silbermedaille zu verleihen; oder aber beiden Gold zu geben und den zweiten Platz freizulassen. Indes: Beide Möglichkeiten wurden von der AIBA-Exekutive mit deutlicher Mehrheit abgelehnt, weil der USA-Verband in Seoul darauf verzichtet hatte, wie von den Regeln vorgeschrieben, innerhalb von 30 Minuten nach dem Kampf einen Protest einzureichen. Auch die Aussagen der Journalisten erwiesen sich als nicht beweisbar und damit justitiabel nicht zu verwerten.

Demzufolge fielen auch die Strafen moderat aus: Sechs Koreanern wurde bis Ende 1990 jede Tätigkeit im Amateurboxen verboten; der Verband wurde ver-

warnt. Fünf Kampfrichter sperrte man für die Dauer von zwei Jahren, 13 weitere für die WM 1989. Unter den am längsten Suspendierten waren neben Larbi der Ugandaer Bob D. Kasule und der Uruguayer Alberto Duran, die ebenfalls für Park gestimmt hatten, während Saut Gwadjawa (UdSSR) und der Ungar Sandor Pajar jeweils tnit 60:56 Roy Jones vorn sahen. Daß Pajar dennoch ebenfalls zwei Jahren gesperrt wurde, war die Folge eines schweren Fehlers, der ihm im Kampf 287 unterlaufen war, als ein Boxer nach dem Signal k.o. geschlagen wurde.

Alles andere, was damals diskutiert und auch von der Stasi protokolliert wurde, sind Gerüchte und Vermutungen. Das »Gold«, das die Südkoreaner verteilten, entpuppte sich als vergoldete Schlüsselanhänger Gastfreundschaft oder Bestechung? Die angeblich oder tatsächlich gezahlten Dollar wurden als »Unterstützung« für die »Dritte Welt« deklariert; das Gegenteil läßt sich auch hier nicht beweisen.

Das letzte Wort hat freilich Lausanne. Erfahrungsgemäß aber hält sich das IOC aus den Angelegenheiten der Internationalen Föderationen selbst dann heraus, wenn fragwürdige Entscheidungen gefällt wurden - etwa wie bei der Disqualifikation der drei DDR-Rennrodlerinnen 1968 in Grenoble, der Entscheidung im Basketball-Finale UdSSR - USA 1972 in München oder bei der Disqualifikation des 400-m-Freistilschwimmers Rick DeMont (USA), dem die Goldmedaille 1972 wegen Dopings, das ihm in Unkenntnis der Regeln der US-Mannschaftsarzt verabreichte, aberkannt worden war Wenn man sich beim IOC die Fernsehaufzeichnung von Seoul '88 anschaut, wird man auch dort zu der Erkenntnis kommen, daß Jones der bessere Boxer war. Bevor er aus Inkompetenz oder mit Vorsatz um den Erfolg betrogen wurde, geschah das mit Torsten Schmitz und Vincenzo Nardiello, die auch Olympiasieger hätten sein können.

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