- Politik
- Stolypins Agrarreform von 1906
Keine Zaren-Rettung
In Kreisen der Herrschenden Rußlands war man sichtlich erleichtert, als Nikolaus II. den Ausnahmeparagraphen 87 der »Grundgesetze des Russischen Staates« erstmals anwandte. Der Paragraph ermöglichte die Verabschiedung von Gesetzen ohne die gesetzgebenden Organe, wenn dies »außerordentliche Umstände« erforderten, sah jedoch ihre Bestätigung durch diese Organe binnen zwei Monaten vor. So konnte am 9 (22.) November 1906 der Ukas »Über die Ergänzung einiger Bestimmungen der geltenden Gesetze, den bäuerlichen Bodenbesitz und die bäuerliche Bodennutzung betreffend« in Kraft gesetzt werden. Die I. Staatsduma, die der Zar wegen der »Zügellosigkeit« der bäuerlichen Abgeordneten mit ihren Forderungen nach Land und Freiheit aufgelöst hatte, stand allen noch in schlimmer Erinnerung.
Spiritus rector des Ukas' war Pjotr Arkadjewitsch Stolypin, dessen kometen-
hafter Aufstieg vom Gouverneur zum Innenminister und schließlich auch noch Ministerpräsidenten engstens mit der Überlebensstrategie der Monarchie in der ersten russischen Revolution verflochten war Mit einer für die zarische Administration seltenen Klarheit (und Sachkenntnis) wollte er die Agrarverhältnisse Rußlands verändern. Die Dorfgemeinschaft, als Institution des bäuerlichen Lebens und der bäuerlichen Bodennutzung bislang sorgsam gehütet und noch Ende des 19. Jahrhunderts im konservativen Sinne aufgewertet, wurde jetzt zur Auflösung freigegeben. Die Bauern konnten aus ihr ausscheiden, den Boden, den sie in ihrem Rahmen nutzten, als Privateigentum übernehmen. Umsiedlungsmaßnahmen sollten aus besonders landarmen - und aufrührerischen! - Gouvernements Bauern abziehen und u.a. in landwirtschaftlich nutzbareren Regionen Sibiriens seßhaft machen. Schließlich wurde in bestimmtem Umfang staatlicher Boden an die Bauernbodenbank übergeben, damit ihn Bauern dort mit Krediten der Bank kaufen konnten. Der adlige Grund-
besitz wurde freilich nicht angetastet.
Dem Reformer Stolypin ging es nach seinen eigenen Worten um die Herstellung von Ruhe und Ordnung im bäuerlichen Milieu, nicht um die »Zerstörung des historischen Gebäudes Rußland«, sondern um dessen »Umbau« und »Verschönerung« auf »starken monarchistischen Grundlagen«. Ein »starker Privateigentümer« sollte dabei als zuverlässige soziale Stütze dienen und gleichzeitig »Barriere gegen die Entwicklung der revolutionären Bewegung« sein. Ein ausgesprochen konservativer Ansatz also, und dennoch erschlossen sich hier Möglichkeiten, die die kapitalistischen Entwicklungstendenzen in der russischen Landwirtschaft voranbringen konnten.
Die Ergebnisse dieser Agrarreform fielen indes bescheiden aus. Nach acht Jahren (1915/1916) war nur etwa ein Viertel der noch in der Dorfgemeinschaft existierenden Bauernwirtschaften aus ihr ausgeschieden, viele davon unter Zwang. Es entstanden rund 1,3 Millionen Privatwirtschaften, fast ein Drittel davon waren wirtschaftsschwach. Die Umsiedlung erreichte gleichfalls nicht die anvisierten Ziele. Mitunter schien das Heer der damit befaßten Beamten die Zahl der Bauern, die am neuen Ort tatsächlich eine Existenz fanden, zu übertreffen. Staatliche Gelder, ohnehin knapp bemessen, flössen
häufig in dunkle Kanäle ab. Fast ein Fünftel der Umsiedler kehrte mittellos an den ursprünglichen Siedlungsort zurück, viele blieben auf der Strecke, nicht wenige mußten sich in die Abhängigkeit angestammter Bauern begeben. Die Bauernbodenbank vergab bis 1910 12,5 Millionen Rubel an ca. 158 000 Kreditnehmer. Umgerechnet konnte ein Bauer damit nicht einmal eine Desjatine Land kaufen (= 1,09 ha), denn die Bodenpreise stiegen enorm (1907-1914 = 102 Rubel die Desjatine; danach 136 Rubel)...
Nicht Störmanöver von links und rechts, nicht die kurz bemessene Frist, die dem Reformer zur Verfügung stand (er wurde 1911 ermordet), nicht die knappe Zeit für die Agrarreform (sie wurde bei Beginn des Ersten Weltkrieges faktisch abgebrochen) - alles Argumente, die beim Suchen nach verpaßten Möglichkeiten zur Abwendung der Revolution im heutigen Rußland ins Feld geführt werden - haben die versuchte Rettung der Monarchie durch einen solchen »Modernisierungsschub« verhindert. Es war ein widerspruchsvoll verflochtener Komplex von Ursachen und Bedingungen, die im zaristischen System wurzelten. Das Grundproblem bestand darin, daß die Bauern als die von dieser Reform unmittelbar Betroffenen als Akteure ausgeklammert wurden.
20. November 1541: Der Schweizer Reformator Calvin erläßt seine berühmte Genfer Kirchenordnung, in der u.a. die Stadt in Bezirke eingeteilt, die Zahl der Geistlichen und ihre Ämter festgesetzt und ihnen Älteste beigeordnet werden.
21. November 1811: Heinrich von Kleist, deutscher Novellist und Dramatiker, durch Selbstmord (gemeinsam mit seiner Freundin Henriette Vogel) gestorben. Werke u.a.: »Der Prinz von Homburg«, »Michael Kohlhaas«, »Der zerbrochene Krug«.
22. November 1916: Jack London, amerikanischer Schriftsteller irischer Herkunft, bereitet in Glenn Ellen (Kalifornien) seinem Leben durch Selbstmord ein Ende. Aus ärmlichen Verhältnissen stammend, arbeitete er sich zu einem der beliebtesten und bestbezahlten Autoren seiner Zeit empor Werke u.a.: »Der Seewolf«, «Alaska Kid«, »Wolfsblut«.
23. November 1931: Verurteilung des Herausgebers der Weltbühne, Carl v. Ossietzky, durch das Reichsgericht zu anderthalb Jahren Gefängnis wegen »Verrats militärischer Geheimnisse«. Die Weltbühne hatte einen Artikel über die illegale deutsche Rüstung veröffentlicht.
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