Der geniale Wurf

Vor 100 Jahren erschienen: Thomas Manns »Buddenbrooks«

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 10 Min.
Die Stadt brodelte. Jemand hatte sie auf eine schreckliche Probe gestellt. Ein Buch war erschienen, ein dicker, ausladender Roman, zwei Bände, die Lübecks Bürgerschaft in Aufruhr versetzten, ein wahrhaft starkes Stück, ja eine Kriegserklärung. Man las und erschrak, man wetterte, und manche legten Listen an, in denen die Figuren des Romans realen Personen zugeordnet wurden. Die Listen gingen von Hand zu Hand. Das Buch erschien den einen, schrieb Otto Anthes 1925, »als niedere Rache eines Mißvergnügten, den anderen als der Ausfluß einer ehrfurchtslosen Frechheit, allen gleichermaßen aber als ein übles Machwerk«. Der Autor, Sohn eines angesehenen Mitbürgers, konnte von Glück reden, dass er weit weg war, und es sollte Jahrzehnte dauern, bis Lübeck ihm die frevelhafte Tat halbwegs verzieh.
Einer aus der Mitte der erregten Gesellschaft, der in Hamburg lebende Friedrich Mann, bebte noch, als das Schlimmste längst vorbei war. Am 28. Oktober 1913 ließ er in den »Lübecker Anzeigen« eine Annonce drucken, die seinem Unmut endlich ein Ventil verschaffte. »Es sind mir im Laufe der letzten 12 Jahre durch die Herausgabe der "Buddenbrocks", verfasst von meinem Neffen, Herrn Thomas Mann in München«, schrieb er (und schrieb tatsächlich »Buddenbrocks«), »dermassen viele Unannehmlichkeiten erwachsen, die von den traurigsten Konsequenzen für mich waren ... Wenn der Verfasser der "Buddenbrocks" in karikierender Weise seine allernächsten Verwandten in den Schmutz zieht und deren Lebensschicksale eklatant preisgibt, so wird jeder rechtdenkende Mensch finden, dass dieses verwerflich ist. Ein trauriger Vogel, der sein eignes Nest beschmutzt.«
Die Sache war so schlimm, dass Thomas Mann sich Ende 1905, vier Jahre nach dem Start des Romans, zu einer Verteidigungsrede entschloss. Wenn man alle Bücher, in denen ein Autor Zeitgenossen, lebende Personen seiner Bekanntschaft porträtierte, diskriminieren wolle, meinte er, würden unter das Verdikt ganze Bibliotheken fallen, viele, unglaublich viele Werke der Weltliteratur. Drei Monate später, in seinem Aufsatz »Bilse und ich«, untermauerte er die Erklärung. Er sei »tief erstaunt« gewesen, schrieb er, als er vernahm, sein Buch würde in Lübeck »Aufsehen und böses Blut« machen. Und er erzählte, wie es war, als er mit der Arbeit an den »Buddenbrooks« begann. Er saß in Rom, Via Torre Argentina trenta quattro, drei Stiegen hoch, und seine Vaterstadt hatte nicht viel Realität für ihn. »Sie war mir, mit ihren Insassen, nicht wesentlich mehr als ein Traum, skurril und ehrwürdig, geträumt vor Zeiten, geträumt von mir und in der eigentümlichsten Weise mein eigen.«
Noch war er ein blutiger Anfänger. Gut, er hatte 1898 schon einen Novellenband publiziert, ein Büchlein von bescheidenem Umfang, nichts Außergewöhnliches, aber solide, talent- und reizvoll war es schon, und das Beste darin war die Titelerzählung gewesen, die »melancholische Geschichte« des kleinen, verwachsenen Herrn Friedemann. Samuel Fischer, der Verleger, wollte noch mehr drucken, wünschte sich nun »ein größeres Prosawerk«, am liebsten einen Roman. Thomas Mann, beschäftigt mit den Korrekturfahnen seines Erstlings, hatte nichts dagegen, ihm den Gefallen zu tun. Im Oktober 1897 schrieb er die ersten Zeilen einer Geschichte von zunächst überschaubarer Dimension, eine Erzählung vom tragischen Geschick eines dünnhäutigen, zerbrechlichen Jungen, der in die betörende Welt Wagners und Schopenhauers gerät und, ausgeliefert einem profanen Alltag, zerbricht. Doch er merkte bald, dass die Erzählung ohne Vorgeschichte nicht auskam, dass der zarte, gefährdete Knabe, sein Held, ein Umfeld brauchte, eine Familie, Vergangenheit und Tradition.
Er würde einen Familienroman schreiben, ja, warum eigentlich nicht. Auch Heinrich, sein erfolgreicher Bruder, hatte so begonnen und mit einem Buch debütiert, das seine Bewandtnis gleich im Titel offenbarte: »In einer Familie«. Schließlich lag einem ja alles, was man brauchte, zu Füßen. Man musste sich nur bücken. Und dann das Gefundene formen, verwandeln, den eigenen Zwecken unterwerfen. Und er sammelte, was ihm irgendwie erreichbar war, Anekdoten, Kochrezepte der Mutter, Angaben über Krankheiten, Redewendungen, Preise. Er schickte einem Vetter seines Vaters einen langen Fragebogen nach Lübeck, der um detaillierte Auskünfte über allerlei geschäftliche, wirtschaftsgeschichtliche und politische Vorgänge in der Hansestadt bat. Er machte sich haufenweise Notizen, skizzierte den Grundriss des Hauses in der Mengstraße 4, stellte eine Liste mit Familiendaten zusammen. Im »Simplizissimus« sah er eine Abbildung, die einen schlaffen, dickbäuchigen Kerl zeigte, der in einer Wirtschaft auf sein Bier wartet. Er schnitt sie aus und schrieb darunter: Herr Permaneder. Sie diente ihm als Vorlage für die Beschreibung jenes bajuwarischen Hopfenhändlers, der Tony Buddenbrooks zweiter Ehemann wird. Er ließ sich einen Bericht über Elisabeth, eine Tante, und ihre Tochter anfertigen, ausführliche 28Seiten, die ihm halfen, ein Bild von Tony Buddenbrook und ihrer Tochter Erika zu geben. Die Sendung erreichte ihn mit der dringlichen Bitte, ja taktvoll mit dem Papier umzugehen, aber was sollte er zu solch einer Ermahnung schon sagen: Über Takt oder Taktlosigkeit entschieden am Ende die Erfordernisse des Romans. Er war jedenfalls gewillt, das Vorgefundene und Ermittelte umstandslos zu verwenden, wenn es denn seiner Geschichte zugute kam. (Seit 1993 gibt es im Lübecker Verlagshaus DrägerDruck einen großformatigen, sehr aufschlussreichen Bildband, der unter dem Titel »Buddenbrooks. Dichtung und Wirklichkeit« das raffinierte Beziehungsgeflecht des Romans dokumentiert.)
Ausgabe BuddenbrooksThomas Mann wollte den Niedergang einer Familie erzählen, und die Absicht sollte, meinte er anfangs, gleich im Titel erkennbar sein. »Abwärts« würde er den Roman nennen, aber dann entschied er sich doch für den Familiennamen als Titel. »Buddenbrooks« also. Eine Lübecker Getreidefirma, erfolgreich und mächtig, geprägt von Bürgersinn und Fleiß, geführt mit Umsicht und einem Ernst, der von den kommenden Erschütterungen noch nichts weiß. Man hat es zu Wohlstand und Ansehen gebracht, und die Geschäfte gehen, wenn Thomas Mann zu erzählen beginnt, prächtig. Nicht mal die Revolution von 1848, deren Wetterleuchten bis an die Trave dringt, bedeutet wirklich Gefahr. Zwar erscheinen die Arbeiter prompt vorm Senat und jagen den Männern im Sitzungssaal durch ihr Getöse Angst und Schrecken ein, aber dem Konsul Buddenbrook, der sich der Menge besänftigend stellt, gelingt's mühelos, die braven Leute, die nun auch in Lübeck »Revolutschon« machen wollten, nach Hause zu schicken.
Und dennoch: Die Symptome des Verfalls (der einhergeht mit einem Zuwachs an innerem Reichtum durch die Beschäftigung mit der Kunst) zeigen sich nicht erst, wenn in der zweiten Hälfte des Buches wirtschaftliche Katastrophen die Firma schütteln und der Rivale Hagenström seine bedrohliche Stellung ausbaut. Sie machen sich schon viel früher bemerkbar: im hypochondrischen Christian Buddenbrook, diesem tragischen Clown mit den Qualen im linken Bein, den Schluckbeschwerden und dem unglückseligen Hang, regelmäßige Arbeit zu meiden und stattdessen lieber die Zerstreuung zu suchen; in Tony Buddenbrooks total missratenen Ehen, zuletzt in Hanno, dem Jüngsten, dem Künstler, der mit der groben und schrecklichen Umwelt nicht zurecht kommt und den am Ende der Typhus dahinrafft.
Allein Thomas, der Mann, der in der dritten Generation das Unternehmen führt, hält dem äußeren Druck lange stand, freilich unter Aufbietung aller Kräfte und mit unglaublicher Selbstbeherrschung. Aber dann ist es auch um ihn geschehen. Die Misserfolge zehren an der Substanz, Ehefrau Gerda hält sich an die Musik, Sohn Hanno erweist sich als lebensuntüchtig, »und das Geschäftsleben war in seinem rücksichtslosen und unsentimentalen Verlaufe ein Abbild des großen und ganzen Lebens«. Plötzlich wechselt er nur alle zwei Tage das Oberhemd, die Schlappen mehren sich, er verfällt, gleicht bald schon einem alten, verbrauchten Mann, und der Autor, unerbittlich mit seinen Figuren, beschert ihm schließlich ein Ende im Straßendreck.
Ausgerechnet er, Thomas Buddenbrook, der elegante, respektable Senator, der die Tugenden des Bürgertums lebte, stirbt nach einer harmlosen Zahnoperation im Rinnstein. Vorher aber gibt ihm Thomas Mann noch ein Buch in die Hand, das unscheinbarste Exemplar, das seine von Lederrücken dominierte Bibliothek beherbergt, immer gemieden wie eine verbotene Frucht. Und nun wird es zur Offenbarung. Thomas Buddenbrook liest Schopenhauers »Die Welt als Wille und Vorstellung« und findet, mitgenommen und erschüttert, im Kapitel »Über den Tod und sein Verhältnis zur Unzerstörbarkeit unseres Wesens an sich« einen Hinweis auf die eigene, dem gewöhnlichen Leben entfremdete Existenz. »Er fühlte sein ganzes Wesen«, schreibt Thomas Mann, »auf ungeheuerliche Art geweitet und von einer schweren, dunklen Trunkenheit erfüllt; seinen Sinn umnebelt und vollständig berauscht von irgendetwas unsäglich Neuem, Lockendem und Verheißungsvollem, das an erste, hoffende Liebessehnsucht gemahnte.«
Mit wie viel Umsicht, mit welchem Abstand und welcher Intelligenz ist das erzählt. Wir wollen ja nicht vergessen: Das hat einer konzipiert, der gerade mal 20Jahre alt war, ein Spund, der in der Schule allenfalls durch arge Mittelmäßigkeit auffiel. Und nun dirigierte er mit bewundernswerter Souveränität ein ganzes Heer von Gestalten und erwies sich nicht nur als grandioser Beobachter, sondern auch als Artist, als ein so sicherer, verblüffender, sprachgewandter Erzähler, dass man aus dem Staunen nicht herauskommt. Und wie er das Kunststück fertig bringt, die Tragödien, die sich hier ereignen, all die Schmerzen, Pleiten und Stürze, die er seinen Figuren zumutet, mit einem untrüglichen Blick fürs Groteske, für den Witz auszubreiten, das hat in der Literatur Seltenheitswert.
Er hatte keine Muster für dieses Buch. Er ahmte nichts nach. Er liebte Fontane, und Fontane war das Maß, das er an seine Bemühung legte, mehr aber auch nicht. Die »Buddenbrooks« waren ganz und gar sein Geschöpf, in ihrer Eleganz, ihrem kraftvollen Ausdruck, ihrem geistigen Horizont, ihrem Humor. Und die Stärken des Romans zeigen sich ja noch in den Randfiguren. Ob Sesemi Weichbrodt, Aline Puvogel oder Oberlehrer Mantelsack: Jeder, auch wenn er nur für Augenblicke die Szene betritt, erhielt vom Autor ein deutliches, einprägsames Profil.
Der Roman ist ein frisches, ein lebendiges, anmutiges und erheiterndes Buch geblieben. Er gehört zu den Werken, die nicht altern. »Auch bei wiederholter Lektüre«, schrieb Siegfried Lenz vor zwei Jahren, »ist man beteiligt: Man ist ergriffen und amüsiert und wehmütig, ganz so, als gehe man mit Personen von höchster Gegenwärtigkeit um. Obwohl der detailsüchtige Autor immer wieder Jahreszahlen nennt, längst Vergangenes beschwört: Die Geschichte, die so gelassen erzählt wird, kommt mir nicht als historisches Geschehen vor. Im Gegenteil: Ich habe das Gefühl, an einem überzeitlichen Ereignis teilzuhaben.«
Damals, im August 1900, als das doppelseitig beschriebene Manuskript (das einzige Exemplar, das es gab) an S. Fischer gegangen war, hat Thomas Mann lange warten müssen, bis der Verleger sich rührte. Seine Reaktion war merkwürdig genug. Er habe sich, schrieb er Ende Oktober, mit der Lektüre des Werkes befasst und sei inzwischen bis zur Hälfte gekommen. Und schloss gleich die Frage an, die ihn offenbar unendlich quälte: »Glauben Sie, dass es Ihnen möglich ist, Ihr Werk um etwa die Hälfte zu kürzen, so finden Sie mich im Prinzip sehr geneigt, Ihr Buch zu verlegen.« Thomas Mann, der gerade seinen Militärdienst absolvierte und im Lazarett lag, war, nach eigenem Bekenntnis, außer sich. Mit Bleistift schrieb er sofort »einen langen, leidenschaftlichen Brief an den Verleger, in dem ich ... mein Werk gegen die Zumuthung der Verstümmelung vertheidigte und mit aller Kraft darauf drang, es unverkürzt zu veroeffentlichen«. S. Fischer gab erschrocken nach und druckte, skeptisch, wie er war, tausend Exemplare. Sie kamen im Oktober 1901 auf den Markt. Fünf Jahre später war der Roman schon im 37. Tausend. Später gab's Volks- und Buchklubausgaben in reicher Zahl und in hohen Auflagen und 1960 bei S. Fischer die erste Taschenbuchedition. Dazu, natürlich, Übersetzungen. Sie erschienen in 32 Ländern, zuletzt in Kuba.
Thomas Mann hat seinem Familienepos, für das er 1929 den Nobelpreis erhielt, ein großes, meisterhaftes und vielgerühmtes Romanwerk folgen lassen. Ein Buch wie die »Buddenbrooks«, so berühmt und so populär, ist ihm nicht wieder gelungen.


Thomas Mann: Buddenbrooks. Verfall einer Familie. S. Fischer Verlag. Sonderausgabe (mit dem Einbandmotiv der ersten einbändigen Ausgabe von 1903). 767Seiten, gebunden, 25 DM. Bei Hörbuch Hamburg erschienen: 100 Jahre Buddenbrooks. Von Leo Domzalski. 2 CD, 39,12 DM.
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