Dieser Text ist Teil des nd-Archivs seit 1946.

Um die Inhalte, die in den Jahrgängen bis 2001 als gedrucktes Papier vorliegen, in eine digitalisierte Fassung zu übertragen, wurde eine automatische Text- und Layouterkennung eingesetzt. Je älter das Original, umso höher die Wahrscheinlichkeit, dass der automatische Erkennvorgang bei einzelnen Wörtern oder Absätzen auf Probleme stößt.

Es kann also vereinzelt vorkommen, dass Texte fehlerhaft sind.

Statt Haß und Anklage ein Appell zur Liebe

Andrej Eisenberger über sein Leben als GULag-Sklave und verratene Ideale Von Karlen Vesper

  • Lesedauer: 6 Min.

Andrej Eisenberger ist voller Freude, als er im Herbst 1942 seinen Gestellungsbefehl erhält: Er, Sohn eines deutschen Kommunisten, darf an die Front, um seine Heimat, die Sowjetunion, gegen die deutschen Faschisten zu verteidigen. Denkt er-und irrt. DerZug rollt gen Osten, in die Taiga. Am Dienstag waren Andrej Eisenberger, seine Lebensgefährtin Cecilia (Zilja) Selwinskaja und Markus Wolf, ein Jugendfreund der beiden. Gast im ND-Club.

Es ist kaum glaublich: Da redet einer von Liebe, beschwört die Liebe, preist sie als Allheilmittel zur Lösung aller Probleme und Konflikte unter den Menschen, einer, der einst selbst gewaltsam von seinen Lieben getrennt worden war, dem Haß und Feindschaft entgegenschlugen, der Grausamkeit, Zynismus, Sadismus erlebte.

Unglaublich, aber wahr- Da spricht einer von Freundlichkeit und meint, daß die Welt besser sein könnte, als sie ist, wenn die Menschen zueinander freundlicher wären - einer, mit dem andere Menschen über Jahrzehnte höchst unfreundlich umgegangen sind, der gedemütigt, verhöhnt, bespuckt, getreten worden ist, einer, dem ein grausiger Tod bestimmt war- in der eisigen Kälte der Taiga zu erfrieren oder zu verhungern.

Wie kann das sein, daß ein einstiger GULag-Sklave Appelle der Liebe und Freundlichkeit aussendet? Kein Wort in Zorn, in Wut, kein Wort der Anklage war von Andrej Eisenberger zu hören - nicht einmal gegen den »Psychopathen« oder Tyrannen Stalin, schon gar nicht gegen jenes System, das derart pervertierte, daß es selbst seine treuesten Träger und Anhänger »liquidierte«; ein System, das sich Millionen Arbeitssklaven hielt, obwohl es doch die »Befreiung der Arbeit« verkündet hatte; ein System, das sich Gleichheit

und Menschlichkeit auf die Fahnen geschrieben hatte, aber massenweise Menschenleben verschlang wie ein unersättlicher Moloch. Nach Angaben des russischen Historikers Roy Medwedjew kostete die Kollektivierung in Sowjetrußland allein 16 Millionen Tote, 40 Millionen wurden Terroropfer

Nein, aus der Erzählung von Andrej Eisenberger war keinerlei Verbitterung, keinerlei Haß zu entnehmen. Kein Aufschrei, obwohl sein dieser Tage im Verlag Das Neue Berlin erschienenes Buch den

Titel trägt: »Wenn ich nicht schreie, ersticke ich«.

Im Gegenteil, Andrej Eisenberger sprach gar von NKWD-Leuten, die Mitleid gegenüber ihren Opfern gespürt und mitunter auch gezeigt hätten. Und immer wieder bekräftigte er, daß einzig die Erziehung zu Güte und Menschlichkeit die Menschheit errette.

Die zahlreich erschienenen Zuhörer lauschten voller Respekt und nachdenklich. Sie fühlten und empfanden mit. Und hatten das rechte Wort parat, wenn Andrej Eisenberger nach dem treffenden Ausdruck suchte. Der Sohn des deutschen Kommunisten Josef Eisenberger, der 1923 nach Moskau gegangen war, um für die Komintern zu arbeiten, und im April 1937 als »Volksfeind« verhaftet wurde, trug seine Antworten auf die zahlreichen Fragen in deutsch vor Wenn er zuweilen in Verlegenheit war, betätigte sich das aufmerksame Publikum als kollektiver Souffleur

Es erschütterte und erklärte zugleich vieles, als Andrej Eisenberger gestand, daß schmerzhafter als Kälte oder Hunger in der Taiga für ihn die Erfahrung war, als »deutscher Spion«, als »Fritz« beschimpft worden zu sein: er, Mitglied der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, der doch gegen die »Fritzen«, die deutschen Faschisten, kämpfen wollte!

Es war die Erinnerung an den Vater, die ihn den Tod trotzen ließ, berichtete Andrej Eisenberger. Und es waren vor allem auch die Gedanken an »mein Mädchen«, wie er noch heute sagt: Cecilia (Zilja) Selwinskaja, Tochter des russischen Dichters Ilja Selwinski. Mit einem

verschmitzten Seitenblick zu ihr, gestand er, daß Zilja »damals, in noch unbeschwerten Jahren in Moskau« eigentlich seinen besten Freund Lothar Wloch geliebt und ihn weniger beachtet habe. Lothar Wloch ging nach der Verhaftung seines Vater nach Deutschland zurück. Beim Abschied habe er Andrej Eisenberger gebeten, auf Zilja zu achten. Was diesem jedoch nicht vergönnt war Er konnte ihr nur Briefe aus dem Lager schreiben (»An meine liebe Freundin!«). Es sollten fünf Jahrzehnte verstreichen, bis er Zilja wiedersah. Andrej Eisenberger blieb wie so viele Hunderttausende verbannt - auch nach Kfiegsschluß, auch nach Stalins Tod und auch noch nach dem XX. Parteitag der KPdSU und Chruschtschows berühmter »Geheimrede«. Die GULag-Skla-

ven wurden weiterhin gebraucht.

1963 hat er sich dann aber einfach auf den Weg gemacht, »ungesetzlich«, wie er sagte, Sibirien verlassen. Doch erst 1992 wird er rehabilitiert. Erst im Jahr Sieben nach Glasnost-Verkündung darf er nach Moskau reisen und begegnet er Zilja wieder, der er vorher schriftlich seine Liebe gesteht, die sie nun erwidert.

Vier Jahre später klingelt Markus Wolf an Ziljas Wohnungstür und steht dem Jugendfreund gegenüber, der für ihn »Anarik« geblieben ist, wie der ehemalige HVA-Chef auf der Veranstaltung im ND wissen ließ. Die Söhne von Friedrich Wolf, Konrad und Markus, gehörten zu jenem Freundeskreis, dem Andrej Eisenberger 1942 so brutal entrissen worden war. In seiner »Troika« konnte Markus

Wolf noch nichts Genaueres über das Schicksal von Andrej Eisenberger vermelden. Eben dieses Buch, die »Troika«, so Andrej Eisenberger, habe ihm den Anstoß gegeben, seine Geschichte zu veröffentlichen - in Form seiner Briefe. Es dürfte nicht verwundern, daß für sein Buch Markus Wolf das Nachwort schrieb. Es war ihm ein Bedürfnis, da »solche Geschichten«, wie er im ND-Club betonte, »uns helfen, große und schwierige Wahrheiten zu verstehen«. Sie würden allerdings nicht die Historiker von weiterer Analyse, wie es dazu kommen konnte, entlasten: »Die Historiker werden noch sehr viel zu tun haben.«

Im Publikum wollte mancher gern sogleich zur Analyse schreiten, vor allem die Jüngeren. Sie interessierte aber auch brennend, warum Andrej Eisenberger, Markus Wolf und andere solange über ihre Erfahrungen mit den sehr dunklen Seiten sozialistischer Geschichte geschwiegen haben. Eisenberger erzählte davon, wie schwierig es in der Sowjetunion bis in die 80er Jahre hinein war, zu Wort zu kommen. Und er berichtete, wie er sich seit 1952 bemühte, Näheres über das Schicksal seines Vaters zu erfahren und seit einigen Jahren erst in Besitz von drei Dokumenten mit sich allerdings widersprechenden Angaben über dessen Tod ist. Er sprach auch davon, daß er und andere, die gleiches durchlitten, sich als Patrioten verstanden, und auch deshalb nicht mit ihren Geschichten »auf den Markt« gingen.

Markus Wolf wiederum erinnerte sich, daß sein Vater ihm und seinem Bruder Konrad seinerzeit verschwieg, was er hingegen Freunden gestanden habe, als er 1937 Moskau verließ und nach Spanien ging: »Ich werde doch nicht warten, bis auch ich hier verhaftet werde.« Der ehemalige HVA-Chef sprach auch von der Bereitschaft ganzer Generationen, eine »abstrakte Macht anzubeten«, die dem Einzelschicksal wenig Bedeutung beimaß, von »Selbstbetrug« und der Neigung, bittere Wahrheiten zu verdrängen, nur um die »scheinbar sozialistischen Ideale nicht zu beschmutzen«. Er erinnerte sich, wie er als Berichterstatter beim Nürnberger Prozeß von den Ereignissen in Katyn hörte und dies als üble Propaganda abtat. »Wir haben Arthur Koestlers >Sonnenfinsternis< zwar schon in Moskau - heimlich - gelesen. Aber er war für uns ein Überläufer, ein Renegat«, so Markus Wolf. Andererseits sprach Markus Wolf wiederum von »Gefühlen der Erleichterung und Hoffnungen«, wie sie in Tauwetterperioden, z.B. nach dem XX. Parteitag der KPdSU, aufkamen: Man habe sich immer wieder der Täuschung hingegeben, nun werde alles gut. Selbsttäuschung also auch in Etagen, wo man doch sehr viel mehr Einblicke und Informationen hatte als »normalsterbliche Bürger«.

Viele Fragen blieben an diesem Abend unbeantwortet. Zweifellos wird das Thema die Linken weiter beschäftigen, beschäftigen müssen. Gespräche über die zahllosen tragischen individuellen Schicksale unter Stalin (und Nachfolgern) werden mit und neben schonungsloser Systemanalyse wichtig sein, denn sie berühren eine Kardinalfrage: Ist eine Ordnung sozialistisch zu nennen, die die Menschlichkeit verlor?

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.