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Wer sich vermehrt, fliegt raus

»Church of Euthanasia« will mit tiefschwarzem Humor die Erde retten

  • Lesedauer: 4 Min.

Von Ingolf Bossenz

Der kollektive Selbstmord von »Ufologen« hat ein Schlaglicht auf die Szene dubioser Sekten in den USA geworfen. Eine andere »Kirche« will mit Appellen, der Fortpflanzung zu entsagen, die ökologische Balance wiederherstellen.

Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord«, schrieb Albert Camus (1913-1960). »Die Entscheidung, ob das Leben sich lohne oder nicht, beantwortet die Grundfrage der Philosophie.«

Chris Korda, 34, schätzt den französischen existentialistischen Schriftsteller ob dieser Fragestellung. Sein Wohlwollen findet auch der amerikanische Sterbehelfer Jack Kevorkian, unter dessen Bild Korda Camus-Lesungen veranstaltete. Kevorkian hat nach eigenen Angaben bislang mehr als 40 Suizidwilligen beim Ableben geholfen.

Der Grund für Chris Kordas Interesse am freiwilligen Tod ist der Wille, die Erde zu retten. 1992 gründete der in Boston (US-Bundesstaat Massachusetts) lebende Management-Berater die »Church of Euthanasia« (COE), nennt sich seither Re-

verend und propagiert den Slogan »Save the planet - kill yourself«. Doch so wörtlich ist das nicht gemeint, wie überhaupt - nach Kordas Auskunft - vom Dadaismus inspirierte »shock tactics« und »black humor« zu den Missionierungsinstrumenten seiner Kirche gehören, deren Gemeinnützigkeit als »erzieherische Einrichtung« von den Finanzbehörden anerkannt ist, so daß Spenden von der Steuer abgesetzt werden können. In diesen Genuß kommen in den USA über 1000 Gemeinschaften, die sich irgendeinem Glauben verschrieben haben.

Das »religiöse« Ziel der COE ist die »Wiederherstellung des Gleichgewichts zwischen den Menschen und den übrigen Spezies auf der Erde«. Das Mittel: freiwillige Reduzierung der Bevölkerung. Verzicht auf Vermehrung ist das einzige Gebot der Korda-Church, dessen Verletzung allerdings für die Mitglieder unweigerlich die Exkommunizierung nach sich zieht. Geworben wird für das Recht auf Suizid und Abtreibung, aber auch für Tierrechte und sexuelle Erziehung. Wobei sich letztere vor allem auf die Propagierung solcher Praktiken bezieht, die nicht zur Vermehrung führen.

Die Aktionen der »religiösen Eiferer«, wie Kordas Jünger in der deutschen Presse tituliert wurden, haben allerdings

mehr karnevalistischen Charakter und richten sich meist gegen weit heftigere Eiferer- die Anhänger der »Operation Rescue« und anderer Anti-Abtreibungs-Gruppen, in deren ideologischem Dunstkreis Fanatiker immerhin schon für Tote sorgten. Doch zu gewalttätigen Zusammenstößen kam es bislang nie, denn die COE lehnt jede Art von Gewalt strikt ab. Auch wenn auf Plakaten die Aufforderung steht: »Eßt Menschen, keine Tiere«. Korda, dem als striktem Veganer jede Art der Tiernutzung zuwider ist, weiß, daß in der multimedialen Welt Botschaften provozieren müssen, wenn sie überhaupt noch wahrgenommen werden sollen.

Natürlich ist die Church auch im Internet präsent, um die Kunde ihres Tuns selbst in den entferntesten Erdenwinkel zu tragen (http://www.paranoia.com/ coe/). Doch wird zwar stolz erklärt, man habe Mitglieder »so weit weg wie Italien und Lettland«, aber die internationale Verbreitung der Lehre Kordas wird wohl auf reichliche Früchte warten lassen. Schließlich beläuft sich selbst in den Vereinigten Staaten die Zahl registrierter Mitglieder auf wenige hundert. Und das, obwohl der COE auch beitreten kann, wer sich »bereits vermehrt« hat. In einem Informationsblatt »Häufig gestellte Fragen« wird darauf verwiesen, daß »wir eine

Menge Mitglieder mit Kindern haben«. Bedingung für den Beitritt ist einzig der Verzicht auf künftige Fortpflanzung. Wie der Reverend immer wieder betont, geht es ihm ausschließlich um freiwillige Methoden der Bevölkerungsreduzierung. Auch richtet sich seine Botschaft in erster Linie an die Bürger der reichen Industrieländer, die mit ihrer Müll- und Giftproduktion dem Planeten weit mehr Schaden zufügen, als es den Bewohnern der »Dritten Welt« wegen ihres Kinderreichtums oft unterstellt wird. Auch jeglicher geschlechtlicher Diskriminierung ist der in New York geborene Schriftstellersohn (Vater: Michael Korda) abhold, was er bisweilen dadurch demonstriert, daß er bei Aktionen seiner Church dezent

geschminkt und in Frauenkleidern auftritt. Damit hebt er sich immerhin wohltuend von solchen Gruppen wie den »Promise Keepers« (Die Gott treu bleiben) ab. Die etwa zur gleichen Zeit wie Kordas COE gegründete evangelikale Männerorganisation will Amerika zurück auf den rechten Weg führen. Den »Keepers« zufolge gehen die USA moralisch zugrunde, weil der Mann seine biblische Führungsrolle als Vorstand der Familie und der Kirchengemeinde aufgegeben habe.

»Großer Geist, laß mich sterben, damit die Erde leben kann«, heißt es in einem Gedicht Kordas, das die COE-Zeitschrift »Snuff it« abdruckte. Was wohl auch nicht so ernst gemeint ist, denn ohne den Reverend wäre vermutlich die gesamte Rettungsaktion zum Scheitern verurteilt.

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