- Politik
- »Kopfgeld für Kälber« von Manfred Karremann in der ZDF-Reportage
Herodes, der König von Brüssel
Von Ingolf Bossenz
Er »schickte aus und ließ alle Knäblein zu Bethlehem töten und in der ganzen Gegend, die da zweijährig und darunter waren«. Der Darstellung des Evangelisten Matthäus verdankt der biblische Herodes, König von Judäa, seinen Ruf als Kindermassenmörder. Daß die Medien ausgerechnet nach diesem Schlächter eine der »Marktbereinigungs«-Maßnahmen der Europäischen Kommission benannt haben, läßt Übertreibung vermuten. Doch die grausige Wirklichkeit wird dem Namenspatron durchaus gerecht. Zwar geht es nicht um Kinder, sondern »nur« um Kälber. Aber was mit diesen geschieht, zeigt, zu welchen Perversionen die von Brüssel angestachelte Geldgier Menschen treibt.
Der Filmemacher Manfred Karremann (36) war in der ZDF-Reportage am
Freitag abend auf den Spuren der sogenannten Herodes-Kälber. Tausende dieser Tiere, jünger als 20 Tage, werden von Deutschland nach Frankreich gekarrt, wo sie auf lizenzierten Schlachthöfen umgebracht und wie Abfall entsorgt werden. Der Grund für den blutigen Tourismus: Pro getötetem Kalb gibt es durchschnittlich 260 Mark Steuergelder aus der EU-Kasse als »Verarbeitungsprämie«. In Deutschland winken nur die etwa 120 Mark »Frühvermarktungsprämie«, für die das Kalb bis höchstens 112 Kilogramm gemästet und dann für den Verbrauch geschlachtet werden muß. Da lockt das »Kopfgeld für Kälber« - so der Titel des Films - im Nachbarland.
Wie schon in »Lizenz zum Quälen -Tiertransporte« konfrontiert Karremann den Zuschauer gnadenlos mit der Qual der Kreatur: die nächtlichen Todestransporte mit den auf engstem Raum zusammengepferchten Tieren, die unter Tritten und Schlägen erfolgende Entladung, das
blutige Ende unter dem Messer der Schlachthof-Killer. Im Kadavercontainer tote und noch zuckende Leiber, die ihrer letzten Bestimmung entgegenfahren: der Verarbeitung zu Tiermehl.
Karremann weiß, daß er über diese zum Teil mit verdeckter Kamera gedrehten - Sequenzen Emotionen auslöst. Doch ihm geht es nicht nur um Mitleid und Empörung. Er zeigt das kalte bürokratische System, das die blutigen Bilder zum Laufen bringt. Insbesondere im Gefolge der BSE-Krise wuchsen die über Jahre in der Europäischen Gemeinschaft/Union mit Milliardensubventionen errichteten »Fleischberge«, so daß die Eurokraten in Brüssel sich keinen besseren Rat wußten, als diese mit neuen Milliardensubventionen wieder abzutragen. Seit Herbst vergangenen Jahres gibt es deshalb Geld für das schnelle Schlachten von Kälbern und noch mehr Geld für deren sofortiges Umbringen. Letztere Variante, die den EU-Rindermarkt pro Jahr um eine Million
Tiere »entlasten« soll, akzeptierten allerdings neben Frankreich nur Großbritannien, Irland und Portugal. Bonn pochte auf das deutsche Tierschutzgesetz und entschied gegen die »Herodes-Prämie«, die mitunter doppelt so hoch ist wie der Marktpreis für Kälber. Doch - wie Karremann zeigt - die Transporte gen Frankreich rollen, mit Kälbern aus Bayern, Baden-Württemberg, Mecklenburg-Vorpommern ... Ungeachtet der Erlasse von Länderregierungen, daß die entsprechenden Bescheinigungen bei Erkennbarkeit des tödlichen Endziels nicht auszustellen sind.
Blutige Hände haben in der ZDF-Reportage nur die Männer in den Schlachthöfen. Die Landwirte sind ahnungslos, die Viehhändler wissen von nichts, und die Exporteure können natürlich für ihre Abnehmer auch nicht geradestehen. Da gehen Scheinexporte von Deutschland nach Spanien und wieder zurück nach Frankreich, da werden bei Nacht und Nebel auf deutschen Autobahnen Kälber für die Todesroute umgeladen, und da sind Frachtpapiere mit falschen Zielbestimmungen fein säuberlich in den Ordnern der französischen Kalbs-Entsorge“r abgeheftet. Alles nachweisbar und zurückzuverfolgen, wie der Film zeigt. Und alles
folgenlos. Wenn man von dem lapidaren Satz absieht, zu dem sich das Bundeslandwirtschaftsministerium in seinem jüngsten Tierschutzbericht veranlaßt sah: »Bedauerlicherweise besteht jedoch ein gewisser finanzieller Anreiz zur Lieferung nach Frankreich.«
Vor die Kamera bekommt Karremann weder den Bonner Landwirtschaftsminister Jochen Borchert noch den Brüsseler Agrarkommissar Franz Fischler. Für Borcherts Tierschutzreferenten Gerhard Baumgartner ist es zwar nach dem deutschen Tierschutzgesetz »nicht zulässig, Tiere ohne vernünftigen Grund zu töten«. Aber die Erfinder der »Herodes-Prämie« seien »auf jeden Fall davon ausgegangen, daß es sich hier um einen vernünftigen Grund handelt«, weil der Rindfleischmarkt »völlig aus dem Gleichgewicht geraten ist«. Wie man diesen wieder »in den Griff« bekommt, erläutert Fischlers Sprecher Gerard Kiely dem ZDF-Team: »Das geht am besten, wenn man die Tiere sehr früh aus dem System nimmt.«
»Aus dem System« genommen, das sind sie in der Tat - die wenige Tage alten Kälbchen, die nichts anderes kennengelernt haben als Hunger, Durst, Schmerzen und Schläge. Ein System, dessen der Name Herodes würdig ist.
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