Ein Freund der Stadtbibliothek
Martin Wiehle hat ein Amt. Ein Ehrenamt, ein ganz unspektakuläres
Martin Wiehle ist schon 79. Aber immer noch ein Herr. Als er uns in seiner Wohnung empfängt, trägt er eine zum sandfarbenen Hemd und Pollunder passende Krawatte. Am Finger blitzt ein Herrenring. Den Kaffeetisch hat er mit Porzellan, Servietten und Kuchengabeln gedeckt, sehr edel. Dass er schlecht geschlafen hat und aufgeregt ist, merkt man nur daran, dass er den Ring pausenlos hin- und her dreht. »Heute Nacht ging mir nicht aus dem Kopf«, sagt er, »dass ich Ihnen sicher aus meinem Leben erzählen muss. Da kommt manches wieder hoch.« Wenn er nicht so aufgeregt wäre, hätte er wahrscheinlich formuliert: »Manches, von dem ich mich schon ein bisschen entfernt habe, wird mir wieder nahe treten. Zu nahe.« Denn seine Verbindung mit der Magdeburger Stadtbibliothek war fast so etwas wie eine Ehe. 1954, als er Direktor der Bibliothek wurde, hat er sie geheiratet. Die Mesalliance hielt bis 1991, als er in den Ruhestand ging. Er liebt sie immer noch, und sie braucht ihn noch, aber jene 37 Jahre, in denen er für sie verantwortlich war, waren die besten seines Lebens...
Beinahe hätte ich es überhört: Jawohl, fast 40 Jahre lang saß Martin Wiehle auf einem Chefsessel! Das muss einem erst mal gelingen. Er glaubt, dass es ihm gelungen ist, weil er die meiste Zeit eben nicht auf dem Sessel gesessen hat. »Bibliothekare, Buchhändler, Archivare«, parliert er charmant, »hält man für versponnene Leute, jeder denkt sofort an Spitzweg. So habe ich mich nie gefühlt.« Er habe es immer mit Goethe gehalten: ein Blick ins Buch und zwei ins Leben. Aber ist es nicht gerade das Leben, das die Fallstricke für Karrieren auslegt? Martin Wiehle will das so nicht gelten lassen - schon mancher sei über ein Buch gestolpert, Büchern wohne Kraft inne...
Sein Nachfolger in der Stadtbibliothek ist seit 1992 Peter Petsch. Als ich später Gelegenheit habe, mit ihm zu reden, fällt ihm zu Martin Wiehle ein: »Ein Buchmensch durch und durch, ein engagierter Bibliothekar.« Petsch stammt aus Bremen. Sollte eines Tages mal ein Magdeburger Chef der Bremer Stadtbibliothek werden, dann haben wir die innere Einheit. Aber das nur nebenbei.
Petsch ist ebenfalls ein Mann des Buches. Außerdem, da sich seit den Zeiten seines Vorgängers im Bibliothekswesen einiges verändert hat, ein Mann der Organisation, des Managements und der Logistik. So fand Petsch, als er das Direktorenamt in Magdeburg übernahm, auch in der Stadtbibliothek »einiges veränderungswürdig«. Zunächst sorgte er dafür, dass sie aus dem Haus der ehemaligen Freimaurerloge, in dem Martin Wiehle gewirkt hatte - »wunderschön, aber kein Zweckbau: nichts für Bücher, Bürger und Mitarbeiter« - in einen Neubau umziehen konnte. Heute, bei der »dramatischen kommunalen Situation«, wäre ihm das, sagt er, nicht mehr gelungen. Veränderungswürdig fand er auch den Bestand: Viel Altes musste raus! Petsch hat es »möglichst vermieden, zu makulieren«, stattdessen etliche Bücher und Schallplatten an kleinere Bibliotheken weitergegeben. So schuf er Platz für neue Titel und für neue Medien, vor allem für Videos und DVDs, die bei jungen Menschen beliebt sind.
Martin Wiehle ist mit Büchern aufgewachsen. Nicht nur, dass der Bücherschrank im bürgerlichen Breslauer Elternhaus gut bestückt war, der Junge war auch eifriger Leser einer Volksbücherei und trug den größten Teil seines Taschengelds in Antiquariate. Dennoch kann er nicht sagen, welches Buch es war, das ihm als erstes tiefen Eindruck hinterließ. »Das ist etwas problematisch«, windet er sich ein wenig: »Sie wissen ja, wie die damalige Ideologie war.«
Begeistert war er jedenfalls von Karl May. Und von Geschichte. Und von Büchern über Kriegsschiffe. Als 17-Jähriger stand er dann schon selbst hinter einer Flak, noch im selben Jahr wurde er eingezogen. Dass er zur Marine kam, hat er einer Bekannten seiner Schwester zu verdanken. Sich selbst hat er zu verdanken, dass er dort nicht lange blieb - besser als auf ein Kriegsschiff passte er wohl in eine Schreibstube. Das Schiff, auf dem er gedient hatte, ging mit Mann und Maus unter. 16 Tote. »Ich habe die Nazis gehasst«, sagt Wiehle, »und hasse sie heute noch.« Immer wieder sieht er ein Bild: »Wir haben Flüchtlinge durch die Ostsee gefahren. Kinder suchten ihre Eltern, Eltern suchten ihre Kinder, das Schiff war so voll, das hat gar keiner verantworten können.«
Die Menschen, die er über die Ostsee gefahren hatte, hatten ihre Heimat verloren. Wie er. Nach dem Krieg arbeitete er in Thüringen als Landarbeiter und als Bergmann unter und über Tage. Mitte 1948 bewarb er sich an der Universitätsanstalt für Buch- und Bibliothekswesen in Jena. Dass in einer Zeit, da alle Not litten, Bibliothekare ausgebildet wurden, wundert mich zunächst. »Aber natürlich«, ruft er, »Bücher sind Kampfmittel! In diesen Jahren begann doch die Auseinandersetzung mit dem Faschismus.«
Seine erste Bibliothekarenstelle trat er in der Thüringischen Landesstelle für Buch- und Bibliothekswesen in Jena an. Von der Großstadtbibliothek über die kleinste Dorfbibliothek bis hin zur Gefängnisbibliothek lernte er alles kennen. Was hatte man damals in den Beständen? Die Werke der humanistischen Autoren waren ja am 10. Mai 1933 verbrannt, die Regale mit nationalsozialistischer Literatur aufgefüllt worden. Welche wiederum nach Kriegsende aus den Bibliotheken verbannt wurde. »Wahrscheinlich ist sie in den Reißwolf gekommen«, mutmaßt Wiehle, »und auf dem Papier wurden dann die "Tägliche Rundschau" und später das "Neue Deutschland" gedruckt.« Wahrscheinlich.
Nach der Wende musste auch derBestand an Büchern reduziert werden, der unter seiner Ägide angeschafft worden war. Man brauchte nicht mehr so viele Exemplare zum Beispiel von Alexander Abuschs »Irrweg einer Nation« oder der so genannten »KZ-Literatur« von Anna Seghers bis Bruno Apitz. Kaum jemand wollte sie noch lesen. Ebenso wenig wie Tucholsky oder sogar Brigitte Reimann, die als junge Autorin Zigarre rauchend neben Martin Wiehle auf dem Podium in der Stadtbibliothek gesessen hatte. Man kannte das alles in- und auswendig, es gab andere Fragen, die bewegten. Und neue, andere Autoren, die auf einmal zugänglich waren. Die Wahrheit, die Wiehle heute akzeptieren kann: Bücher sind keine Heiligtümer, sie kommen und gehen. Am schnellsten kommen und gehen jene, die sich in den Dienst einer Macht stellen. Auch denen, die nur unterhalten wollen, ist nur ein kurzes Leben beschieden - die Leser lechzen ständig nach Neuem. Unsterblich werden nur wenige. Sie werden immer Leser finden. Allerdings nur einen kleinen Kreis.
Peter Petsch kann mit dem Begriff »Leseland DDR« nicht viel anfangen. Er beobachtet, dass die Entwicklung heute »eher in die andere Richtung geht«. Habe man zuvor in der Literatur »zwischen den Zeilen« das gelesen, was nicht in den Zeitungen stand, sei das heute nicht mehr nötig. Außerdem sei der Zeitfonds, der zum Lesen zur Verfügung steht, seit »dem Siegeszug des Computers und der Bespaßung durchs TV« nun wesentlich geringer bemessen. Knapp vier Stunden täglich, weiß er, sieht jeder Sachsen-Anhalter fern - »das ist Konkurrenz!« Aber wenn Bibliotheken in Konkurrenz zum Fernsehen treten müssen, dann müssen sie auch in Konkurrenz zur Quote treten. Was, soweit ich das beurteilen kann, einem gewissen Bildungsauftrag für Mehrheiten zuwiderlaufen dürfte. Zwar habe sich die Anzahl der Bibliotheksnutzer seit 1992 erhöht, so Petsch, aber nicht unbedingt die der Leser anspruchsvoller Literatur. Und junge Leser würden weniger. »Wir müssen zur Kenntnis nehmen«, sagt er, »dass früher 50 bis 60 Prozent der Schüler zu uns kamen, jetzt sind es nur noch 20 Prozent. Möglicherweise wird der Trend durch die allgemeine Finanznot verstärkt, wir nehmen ja fünf Euro Jahresgebühr. Die sind an sich lächerlich, aber anscheinend auch schon zu viel.« Petsch hat gehört, dass man früher händeringend Leute gesucht habe, die Kindern etwas vorlesen, um sie ans Lesen heranzuführen. »Heute stehen die Freunde der Stadtbibliothek vor der Tür und suchen händeringend nach Kindern, denen sie etwas vorlesen können. Aber da gibt es eine demokratische Verhinderung: Ich habe keine Kinder, die Interesse haben, ich müsste sie backen.«
Als Oberbibliotheksrat Martin Wiehle 1992 in den Ruhestand trat, hätte er sich umdrehen und sagen können: »Macht euern Kram doch jetzt allein.« Das konnte er nicht. Noch 1989 hatte er der Magdeburger Volksstimme, befragt nach der »Rolle des Buches im Leben der Werktätigen«, geantwortet: »Wir brauchen uns auf diesem Gebiet wahrlich nicht zu schämen. Im Gegenteil! ... Ich kann vergleichen zwischen der Zeit meines Anfangs 1954 und heute. Vor 35 Jahren verfügte das Städtische Magdeburger Bibliotheksnetz über 90000 Bände, die 10000 Benutzer zu 227000 Entleihungen gebrauchten. Heute haben wir die fünffache Benutzerzahl, nämlich 53000, wir haben die zehnfache Zahl der Bände, nämlich 934000, und es gab 1988 1,5 Millionen Entleihungen. Das sind Dimensionen, hinter denen sich auch unvergängliche geistige Entwicklungen zeigen.«
Wirklich? 16 Stadtteilbibliotheken hatte Wiehle aufgebaut, damit jeder sie erreichen, jeder Zugang zu Büchern haben konnte; dieses Netz wollte er erhalten. Deshalb ist er 1992 Vorsitzender der Gesellschaft der Freunde der Magdeburger Stadtbibliothek geworden, mit ihr hat er gekämpft. Aber es war eben doch nicht nur eine Frage der Standorte und der Masse. Es war auch eine Frage des Interesses. Hatte es mit dem Elitenwechsel bei Gründung der DDR und den damit verbundenen Aufstiegschancen ein großes allgemeines Bildungsbedürfnis gegeben, hatte später ein Teil der Literatur die Rolle des kritischen Gewissens übernommen, scheint die heutige soziokulturelle Entwicklung einem Bildungsstreben der großen Masse entgegenzustehen. So hat Wiehle das nicht voraussehen können. Sehr wohl vorausgesehen hat er, dass die Arbeit der Bibliotheken künftig vor allem an deren Wirtschaftlichkeit gemessen würde. Von den 16 Stadtteilbibliotheken konnten nur drei erhalten werden...
Dass er sich trotzdem nicht gekränkt zurückzieht, ist generös. Wem würde das auch nützen? Was er und die »Freunde« noch für die Magdeburger Stadtbibliothek tun können, das tun sie. Genauer: Sie tun es für die Leser, deren Interessen sie vertreten. »Wir können Sachen machen«, sagt Martin Wiehle, »die der Direktor nicht machen kann bzw. darf. Wir können zum Beispiel an den Bürgermeister schreiben, uns an die Presse wenden, Geld sammeln für Dinge, die im Haushalt der Bibliothek nicht vorgesehen sind. Plötzlich hat sie dann das neue Sofa, das sie braucht, den CD- oder DVD-Player, mit dem kontrolliert wird, ob die Bestände noch einwandfrei funktionieren. Oder wir übernehmen die Druckkosten für eine Publikation. Oder laden einen Autor zu einer Abendveranstaltung ein und betreuen ihn finanziell...«
Eher peanuts, denke ich. Andererseits sagt es eine Menge über die Wertschätzung, die Bibliotheken und ihrem Bildungsauftrag entgegengebracht wird, dass eine Stadtbibliothek sich ein neues Sofa, einen CD- oder DVD-Player schenken lassen muss. Wiehle gießt Kaffee nach und zuckt mit den Schultern. Die Dinge sind, wie sie sind, und auf ein paar Liebesdienste soll es nicht ankommen. Nachdem vor vier Jahren seine Frau Helga starb, seine »Zweitfrau« neben der Bibliothek, ist er in eine größere Wohnung gezogen. In die Magdeburger Gutenbergstraße - wenn das kein Zufall ist. Hier hat er endlich Raum für ein eigenes Arbeitszimmer und seine Bücher. Auf dem Schreibtisch steht ein Computer. Ein kleines, reichlich betagtes Modell, das ihm der Verlag zur Verfügung gestellt hat, weil seine getippten Manuskripte zu umständlich zu bearbeiten waren. Gekauft hätte er sich den nie. »Eine Welt, in der es nur Computer, aber keine Bücher gibt, ist kalt«, findet er. Vielleicht schreibt er deshalb seit einiger Zeit selbst welche. Er hat Bücher über Magdeburger Persönlichkeiten herausgebracht, über Persönlichkeiten der Altmark und der Börde, in Arbeit befindet sich eines über Harzer Persönlichkeiten. Längst hat er ein Leben außerhalb der Bibliothek.
Ein Leben, in dem er immer noch Bibliothekar sein kann. In dicken Leitzordnern bewahrt er auf, was er über »seine« Persönlichkeiten zusammenträgt. Bibliothekare sind ja auch Archivare, und Archivare sind eine spezielle Art von Sammlern. Vielleicht ist der Sammler sogar die Urform des Bibliothekars. Martin Wiehle jedenfalls sammelt nicht nur biografische Daten, sondern auch Postkarten; davon hat er tausende. Und neuerdings, seit man sie kaufen kann, sammelt er auch Modelle von Kriegsschiffen. Die hat er auf dem Büfett platziert, neben der Uhr mit dem Westminstergong, der alle Viertelstunde schlägt...
Wer sammelt schon kleine Kriegsschiffe? Martin Wiehle besitzt also doch etwas, womit er zum Medienstar werden könnte.
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