- Politik
- Vor 50 Jahren Das Darmstädter Wort - ein außergewöhnliches Bekenntnis
»Wir sind in die Irre gegangen...«
Wer mit dem Stichwort »Aufarbeitung der Vergangenheit« nicht nur Machtverhältnisse der Gegenwart ausbauen will, sondern wirklich bestrebt ist, geschichtliche Zusammenhänge bewußt zu machen, wird auf das Darmstädter Wort stoßen. In besorgter Offenheit werden in sieben Thesen Irrwege der deutschen evangelischen Kirchen benannt, damit nicht nur christliches Denken und Handeln im neuen Deutschland sich bewußt von den verhängnisvollen militaristischen und kapitalistischen Zeiten lossagt.
Der Bruderrat der Bekennenden Kirche der Evangelischen Kirche in Deutschland tagte am 7 und 8. August 1947 in
Darmstadt. Auch Pfarrer Martin Niemöller und die Theologen Karl Barth und Hans-Joachim Iwand legten einen Entwurf für ein Schuldbekenntnis über die aktive Rolle der evangelischen Kirchen im Nationalsozialismus vor Denn auch sie waren darüber betroffen, wie selbstverständlich Christen und Kirchenleitungen schon wieder dabei waren, sich in die antikommunistische Front des schon beginnenden kalten Krieges einzureihen. Das am 18./19 Oktober 1945 in Stuttgart veröffentlichte Schuldbekenntnis hatte mit sehr allgemeinen Formulierungen den Eindruck erweckt, daß die Kirchen jahrelang gegen das Naziregime gekämpft hätten, aber trotzdem als Schuld bekennen, daß sie nicht noch mutiger bekannt und noch treuer gebetet hätten ... Das Darmstädter Wort dagegen spricht aus, daß Christen, weil sie z. B. die Kon-
sequenzen bürgerlicher Demokratie mehr fürchteten als eine antisemitische Diktatur, gegen die Machtübertragung auf Hitler keineswegs im Namen Christi protestierten. Dieser von der kirchlichen Minderheit der Bekennenden Kirche beschlossene Text wurde als Flugblatt der Bekennenden Kirche in den vier Besatzungszonen Deutschlands verteilt. In der dritten These heißt es: »Wir sind in die Irre gegangen, als wir begannen, eine christliche Front< aufzurichten gegenüber notwendig gewordenen Neuordnungen im gesellschaftlichen Leben der Menschen. Das Bündnis der Kirche mit den das Alte und Herkömmliche konservierenden Mächten hat sich schwer an uns gerächt. Wir haben die christliche Freiheit verraten, die uns erlaubt und gebietet, Lebensformen abzuändern, wo das Zusammenleben der Menschen sol-
che Wandlungen erfordert. Wir haben das Recht der Revolution verneint, aber die Entwicklung zur absoluten Diktatur geduldet und gutgeheißen.«
Es gab viele wütende Reaktionen auch aus den Reihen der Bekennenden Kirche wie z. B. von den Theologen Walther und Künneth, der mit Bischof Otto Dibelius diese Aufforderung zu konkretem Umdenken für eine theologische Entgleisung hielt. Die Autoren wurden Nestbeschmutzer genannt und bezichtigt, den Kommunisten willkommene Argumente zu liefern.
Kam das Darmstädter Wort zu spät? Jedenfalls schieden sich an ihm nicht nur kirchlich die Geister. So kritisch durfte deutsche Vergangenheit öffentlich nicht zur Diskussion gestellt werden!
Die Kirchgemeinden in der DDR, denen
das Erbe der Bekennenden Kirche verbindlich war, standen allerdings Bonhoeffers Texten und dem Kyrie eleison von Jochen Klepper näher als dieser schonungslosen Kirchenkritik des Darmstädter Wortes. Erst durch die 68 er Bewegung fand dieses Schuldbekenntnis wieder Aufmerksamkeit in Kirchgemeinden, in denen inzwischen atomare Rüstung als Gotteslästerung angesehen wurde und Befreiungsbewegungen nicht als Statthalter der Sowjetunion.
Die ungute Rolle, die die christlichen Kirchen in Deutschland durch die Verklärung von Militär und Krieg bis 1933 gespielt hatten, ist bisher dennoch nur mangelhaft bewußt geworden. »Gott mit uns« steht nicht mehr sichtbar auf deutschen Koppelschlössern, obwohl der neue Liberalismus listig anknüpft auch an alle christlichen Werte, wenn sie die freie Marktwirtschaft stützen sollen. Widerstand auch von Christen ist längst zur privaten Ermessensfrage degradiert, wie auch biblisch motiviertes Eintreten für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Wer aber seinen kritischen Verstand von Worten der »Väter« ermutigen lassen will, lese das Darmstädter Wort, es ist aktueller denn je!
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.