»Gefahr im Verzug« kontra Grundrechte

Bundesverfassungsgericht erinnert Polizisten, Staatsanwälte und Richter an ihre Pflichten

  • Claus Dümde
  • Lesedauer: 3 Min.
In einem jetzt veröffentlichten Beschluss haben Bundesverfassungsrichter klargestellt, dass Grundgesetzregelungen zum Schutz der Grundrechte der Bürger von der Polizei nicht durch bloße Berufung auf »Gefahr im Verzug« umgangen werden dürfen.
Die drei Richter der 3. Kammer des Zweiten Senats hatten eine Verfassungsbeschwerde zu entscheiden, bei der es um eine Wohnungsdurchsuchung und die Beschlagnahme eines Mobiltelefons ohne richterliche Anordnung ging. Der Beschwerdeführer war auf Grund eher vager Aussagen von Mitbewohnern seines Hauses, die von der Polizei nicht aufgezeichnet und später auch nicht bestätigt wurden, verdächtigt worden, an einer Einbruchs- und Diebstahlsserie beteiligt gewesen zu sein.
Zwei Stunden, nachdem der Mann gegenüber Polizisten jegliche Beziehung zu einem vorm Haus geparkten gestohlenen Pkw bestritten hatte, suchten sie ihn erneut auf, nahmen ihn vorläufig fest, durchsuchten seine Wohnung und nahmen das Handy mit, um Gespräche zu ermitteln, die er womöglich mit Mittätern geführt hat. Das Amtsgericht Bonn erklärte all dies für rechtmäßig, das Landgericht Bonn nur die Durchsuchung. Begründung: Die Polizei habe fehlerfrei »Gefahr im Verzug« angenommen. Über die Handy-Beschlagnahme sei nicht zu entscheiden, weil durch dessen Herausgabe ein Rechtsschutzbedürfnis entfallen sei.
Der dagegen eingelegten Verfassungsbeschwerde gaben die Richter statt - und lasen indirekt Polizei wie Justiz die Leviten. »Eine Wohnungsdurchsuchung greift in die grundrechtlich geschützte persönliche Lebenssphäre schwerwiegend ein«, heißt es ihrem Beschluss. Dem entspreche, dass Artikel 13, Absatz2 Grundgesetz »die Anordnung einer Durchsuchung grundsätzlich dem Richter vorbehält«.
Dieser »Richtervorbehalt« ziele auf »vorbeugende Kontrolle der Maßnahme durch eine unabhängige und neutrale Instanz«. Deshalb müsse eine Anordnung durch Staatsanwaltschaft oder Polizei bei Gefahr im Verzuge »die Ausnahme bleiben«. Sie dürfen die Zuständigkeit des Ermittlungsrichters, der auch nach Dienstschluss erreichbar sein muss, »nicht unterlaufen, indem sie so lange zuwarten, bis die Gefahr eines Beweismittelverlustes eingetreten ist. Selbst herbeigeführte tatsächliche Voraussetzungen können die Gefahr im Verzuge und die Eilkompetenz nicht begründen.« Einer Durchsuchung müsse in aller Regel der Versuch vorausgehen, einen Ermittlungsrichter zu erreichen. Im fraglichen Fall unterließen das die Polizisten, aber auch Erwägungen über die besondere Dringlichkeit der Durchsuchung.
Auch hinsichtlich der Handy-Beschlagnahme konstatierten die Verfassungsrichter den Versuch, die in Artikel 10, Absatz 2 Grundgesetz und den Paragrafen 100g und 100h Strafprozessordnung fixierten Regeln für Eingriffe in das Fernmeldegeheimnis zu umgehen. Nur unter diesen Voraussetzungen dürfen in elektronischen Speichern der Geräte oder auch in den Einzelverbindungsnachweisen von Rechnungen der Telekom-Firmen ausgewiesene Verbindungsdaten beschlagnahmt werden. Das heißt, bei Verdacht auf eine »Straftat von erheblicher Bedeutung« und gleichfalls grundsätzlich auf richterliche Anordnung.


Grundsatzurteil
Der Zweite Senat in Karlsruhe hatte schon am 20. Februar 2001 in einem Grundsatzurteil zum Thema (2BvR 1444/00) entschieden:
 Der Begriff »Gefahr im Verzug« ist eng auszulegen; die richterliche Anordnung einer Durchsuchung ist die Regel, die nichtrichterliche die Ausnahme.
 »Gefahr im Verzug« muss mit Tatsachen begründet werden, die auf den Einzelfall bezogen sind. Reine Spekulationen, hypothetische Erwägungen oder lediglich auf kriminalistische Alltagserfahrung gestützte, fallunabhängige Vermutungen reichen nicht aus.

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