Das Bett für die Nacht und eine warme Mahlzeit
Obdachlosigkeit Kontinuierlich steigt die Zahl wohnungsloser Frauen. Ehe sie auf der Straße landen, suchen sie bei Bekannten Unterschlupf. Nur wenige trauen sich ins Übernachtungsheim. Von Christel Sperlich
Die Berliner Obdachlosenärztin Jenny de la Torre im Berliner Hauptbahnhof. Morgen erhält sie eine Spende von 15 000 Mark vom Rotary Club Berlin Nord, damit sie weiter Menschen in Not helfen kann. Ihre Arbeit ist durch die Kündigung der Räume gefährdet
Foto:
dpa /Tummescheit
Schnee und Minusgrade rücken obdachlose Menschen erneut ms öffentliche Blickfeld. Überwiegend sind es Männer. Die Zahl der weiblichen Betroffenen schätzt man auf 20 Prozent, doch die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen. In Berlin sind alle Notunterkünfte voll, Brandenburg meldete den ersten Erfrorenen.
Stadtmission am Bahnhof Zoo. Es ist Nacht, eisige Kälte. Ein Bündel geringster Habe neben sich wärmt Ulrike mit dem Becher Tee die gefrorenen Hände. Der Kältebus nimmt sie mit in das Übernachtungsheim Franklinstraße. »Von einigen Männern wurde ich am Bahnhof angemacht. Ich könne mir doch eine Bleibe und Geld auf andere Weise verschaffen.«
Im Übernachtungsheim bekommt sie ein Stück Seife, eingewickelt in einem vergilbten Handtuch. Dazu eine warme Mahlzeit. Für diese Nacht ist gesorgt. Ulrike ist vierundfünfzig, hat drei erwachsene Kinder Nach 25 Ehejahren die Scheidung. Ulrike muß einer jüngeren Frau weichen. Der spätere Versuch einer Lebensgemeinschaft scheitert. Sie flieht vor Gewalt und Demütigung. Plötzlich steht die gelernte Versicherungskauffrau, die sich zwei Jahrzehnte lang ausschließlich ihrer Familie widmete, allein. Ohne Beruf, ohne Wohnung, ohne Geld. Ein paar Nächte bleibt sie bei Bekannten, spürt jedoch bald, daß sie dort nur geduldet ist. »Ich hätte mir nie vorstellen können, in so eine Situation hineinzugeraten. Ich bin in Geborgenheit aufgewachsen, hatte, eine eigene Familie, in der lange^ alles in Ordnung schien - auf einjnal ^er^tiefg^Äbsturz.« Ulrike'^ittect, ist aufgeregt. Ein 'Zigarette nach der'anderen drückt sie im Aschenbecher aus. Sie bezieht das Bett, legt das gefaltete Nachthemd darauf, ordnet ihre Waschutensilien. Die Tür des Raumes schließt sie ab, als wolle sie niemanden hier sehen, und niemand solle sie sehen. Ulrike holt ein Foto ihrer erwachsenen Kinder aus der Brieftasche. Scham macht ihr am meisten zu schaffen. Den Kontakt zu ihren Kindern hat sie vorerst abgebrochen. Sie sollen auf gar keinen Fall erfahren, wie es ihr jetzt geht.
»Die Geschichte vom Vagabunden, der umherzieht, weil er auf der Straße das Gefühl von Romantik sucht, gibt es nicht«, meint Jürgen Marc, Leiter des Übernachtungsheimes. Was Männer und Frauen miteinander verbindet, ist, daß keiner sich seine Situation freiwillig ausgesucht hat und keiner sie freiwillig verlängert. Menschen, die ihr ganzes Leben entwurzelt waren, nie ein Zuhausegefühl
erlebt haben, können es leichter ertragen, in ungesicherte Verhältnisse zu stürzen. Die in festen Bindungen waren, leiden unter den Brüchen so sehr, daß sie mitunter Suizidversuche machen.«
Das Übernachtungsheim ist eine Männerdomäne. Bis zu 75 Wohnungslose können hier schlafen, duschen, Wäsche tauschen, werden medizinisch notversorgt. Lediglich zwei Zimmer stehen den Frauen mit je vier Betten zur Verfügung. Jürgen Marc weiß, daß sie ängstlich sind,
hier hereinzugehen; vielfach haben sie “Schlechte' Erfahrungen mit Männern hinter sich. »Die zu uns kommen, sind meist schon körperlich und in der Seele kaputt«, hat er beobachtet.
Nächster Tag, neun Uhr Um diese Zeit muß Ulrike raus. Wieder auf der vereisten Straße. Kürzlich hat sie von der Beratungsstelle Levetzowstraße erfahren. Mittwochs ist Frauenfrühstück. Die Schritte dahin fallen schwer Ulrike “trifft auf Frauen, die auf Parkbänken, Dachböden oder im Wald kampieren, sich in öffentliche Toiletten verkriechen, abwechselnd bei »Kumpels« übernachten oder sich prostituieren. Frauen, die alles verloren zu haben scheinen, vor allem die Würde.
Daß in dieser Lebenssituation die Flasche für viele wohnungslose Frauen oft einziger Halt ist, um den Zustand ertragen zu können, erlebt Sozialarbeiterin Kathrin Schenke hautnah. Umso größer sei die Kraft derer einzuschätzen, die es
schaffen, aus dem Teufelskreis der Sucht herauszufinden. »Für Frauen ist das Dasein auf der Straße gefährlich und lebensbedrohlich. Sie sind ständig seelischer und körperlicher Gewalt ausgeliefert, Diskriminierungen, Anpöbeleien, sexueller Gewalt. Hinzu kommt, daß Frauen von Kindheit an gelernt haben, erst Tochter und Schwester, später Mutter und Ehefrau von irgend jemandem zu sein. Oft fehlt ihnen ihr eigenes Ich, das Gefühl von Selbstwert.« Darin sieht Kathrin
Schenke auch < dje Ursache ; für die ver-' deckte Obdachlosigkeit: »Frauen versuchen gewöhnlich länger, bei Freundinnen und Bekannten unterzuschlüpfen. So tauchen sie erst spät im Hilfesystem auf.«
Ulrike holt sich Kraft in der Beratungsstelle, da wird telefoniert, werden die nächsten Schritte zu Ämtern und Behörden vereinbart. Schuldgefühle und die Angst vor der Zukunft machen ihr jedoch zu schaffen. »Ich habe früher viel gelacht, jetzt möchte ich mich nur verkriechen.« Doch Ulrike fühlt, daß sie nicht mehr allein ist. Durch regelmäßige Beratung und menschlichen Beistand haben viele der Frauen wieder den Anschluß an ein normales Leben gefunden. Mittwochs beim Frühstück können sie zusammen klönen, ihre Kleidung waschen, bügeln, flicken, duschen, Haare schneiden, oder sich einfach mal etwas Gutes tun. Gemeinsam wird weiter überlegt, was zu ist, werden Kontakte zu Ämtern und Hilfseinrichtungen hergestellt. Perspektiven werden be-
sprochen, Vertrauen aufgebaut, um sich nicht im Elend einzurichten. »Ohne die Hilfe der Mitarbeiterinnen hätten wir das nicht geschafft«, sagt Claudia, eine der »Stammfrauen«. »Wir können uns ausweinen, über unsere Probleme reden, ohne daß sie weiter getragen werden. Wir sind wie eine Familie.«
Familiäre Konflikte, Trennung, Scheidung, Krankheit, Arbeitsplatzverlust oder auch die Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt seien Ursache für den konti-
nuierlichen Anstieg der Zahl wohnungsloser Frauen, betont die Sozialarbeiterin. Auch Akademikerinnen seien zunehmend betroffen.
Krisenheim Berlin-Hohenschönhausen. Hier lebt Roswitha in einem Zimmer mit einer anderen Frau. Auf dem Tisch Schreibutensilien; Roswitha führt Tagebuch. Im Moment ihr Kraftquell, wie sie sagt, um nicht wieder in tiefe Depressionen zu verfallen.
Begonnen habe alles mit der Kündigung. »Die kam damals wie ein Donnerschlag. Ich fühlte mich plötzlich nicht mehr gebraucht, einfach weg vom Fenster « Die einstige Musikredakteurin beim Kinderfernsehen der DDR bemühte sich nach der Abwicklung mit Umschulung und Weiterbildung vergeblich um eine neue Aufgabe. »Ich suchte so etwas wie einen Strohhalm, erhielt nur Absagen, sah kein Licht mehr Als alleinstehende Mutter hatte ich ständig Angst, meine Tochter nicht mehr durchbringen zu kön-
nen.« Roswitha verlor ihren Mut. Die früher aufgeschlossene und offene Frau zog sich mehr und mehr zurück. Das Gefühl, wertlos geworden zu sein, wurde stärker Roswitha wollte sich das Leben nehmen. Der Versuch scheiterte.
Seit 1994 befand sie sich fast nur noch in stationärer Behandlung. Ein Zusammenbruch folgte dem anderen, ein Klinikaufenthalt dem anderen. »Meine Tochter hat mich nur noch als jemanden erlebt, der kaum noch existiert. Sie mußte frühzeitig für sich allein sorgen. Ich selbst habe nichts mehr gegessen, hatte keine Motivation mehr.« Das Geld wurde knapper Ihre Wohnung konnte Roswitha bald nicht mehr bezahlen. Aufgrund der langen Aufenthalte in den Krankenhäusern wurde das Krankengeld immer niedriger, bis es ganz ausblieb. Innerhalb von zwei Monaten erlebte Roswitha, wie sie finanziell abglitt. Vom Arbeitslosengeld in die Arbeitslosenhilfe, einen Monat später in die Sozialhilfe. »Dieser Abstieg war für mich noch schlimmer als die Entlassung damals.« Die 45jährige Frau gerät ins Stocken, ringt nach Worten. Acht Jahre habe sie studiert, ihren Beruf mit Freude ausgeübt. »Auf einmal fühlte ich mich schuldig und schämte mich.«
Obdachlosigkeit - in der DDR ein Begriff ohne gravierende Bedeutung. Trotzdem wurde das Krisenhaus in der Ostberliner Manetstraße bereits im Januar 1988 eingerichtet. Mitarbeiter der Caritas betreuten dort rund um die Uhr Menschen, die in Not geraten waren. »Zuerst war dies fast ein Frauenhaus. Es kamen meistens Frauen, die geschlagen oder gedemütigt worden waren, aber auch Menschen, die sich von der Staatssicherheit verfolgt fühlten, entflohene Häftlinge, von Zuhause weggelaufene Kinder und Jugendliche suchten bei uns Schutz für eine Nacht«, erinnert sich der Leiter des Krisenheimes, Frank Kirschnek. Es war in Ostdeutschland die einzige Einrichtung dieser Art.
Heute sind es hauptsächlich arbeitslose Menschen, die in die Wohnungslosigkeit hineinrutschen. Frauen aus dem Osten, die meiste Zeit ihres beruflichen Alltags in Arbeitsverhältnissen, erfahren i plötzlich, wie schnell sie als »Asoziale« abgestempelt werden können. Die Angst vor dieser Stigmatisierung sei groß. Deshalb könne Hilfe oft nicht rechtzeitig greifen, bei manchen erst dann, wenn der Gerichtsvollzieher vor der Tür stehe.
Roswitha erhielt im Krisenhaus das Übergangszimmer und wird therapeutisch begleitet. Um die Miete braucht sie sich nicht zu kümmern. Trotzdem spart sie das Mittagessen öfter ein, da sie selbst bei dem günstigen Tagessatz des Hauses von 9,30 Mark mit den ihr monatlich verfügbaren 480 Mark nicht über die Runden kommt. Trotzdem hat sie sich im Krisenhaus eingerichtet, kann sich heute »über jeden Tag, der besser läuft«, erfreuen. »Ich suche jetzt Kontakte zu anderen Frauen, schreibe meine Erfahrungen und Gedanken auf. Eines Tages werde ich es schaffen, wieder zu leben. In einer eigenen kleinen Wohnung.«
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