»Die aus der Tuchbude«
Forster Lebensgeschichten nachgespürt
Von Irene Dölling
Anfang der 90er Jahre, als auch in der Forster Textilindustrie die Lichter ausgingen, hat Petra Clemens die hier arbeitenden Frauen interviewt. Geboren zwischen 1936 und 1942 und in der Regel aus der engeren Region stammend, waren sie wie ihre Eltern und Großeltern nach der 8. Klasse, mit 14 Jahren, abgegangen - gleich in die Fabrik. Oftmals anders als diese hatten sie in der DDR einen Beruf erlernt, aber auch anders als diese erlebten sie die gesellschaftliche Abwertung und den technischen Verfall der Textilindustrie. Sie erfuhren diese Abwertung ganz unmittelbar- Die Arbeit in der Tuchfabrik wurde zu einer Domäne von Frauen und Älteren, die Arbeitsbedingungen waren katastrophal, und die Arbeit wurde - entsprechend der Zuordnung zur »Leichtindustrie« - schlecht bezahlt.
Die Frauen dieser Generation, für die es, als sie ihre Familien gründeten, noch kaum sozialpolitische Maßnahmen, keine Pille und kein Recht auf Abtreibung gab, erfuhren auf drastische Weise, daß sie nur als Arbeiterinnen gefragt waren. »Die aus der Tuchbude«, wie sie in der Stadt abschätzig genannt wurden, waren in mehrfacher Hinsicht »die Letzten«. »Wir mußten immer« (arbeiten) - das ist die Bilanz dieser Frauen. Stolz auf die eigene Leistung, Geschicklichkeit und die Fähigkeit, mit dem Mangel »auf Arbeit« und in der Familie umzugehen, schließt dieser Zwang zur Arbeit allerdings nicht aus. Die Sprachlosigkeit, die Petra Clemens auf der Suche nach Gesprächs- und Interviewpartnerinnen feststellt, ist nicht nur - und nicht primär - Ausdruck einer aktuellen Resignation und Enttäuschung »nach der Wende«, sondern von »verändert unveränderten Verhältnissen, unter denen sie die meiste Zeit gelebt und gearbeitet haben«.
Petra Clemens hat bereits in den 80er Jahren Frauenleben in der DDR aus einer biographischen, lebensgeschichtlichen Perspektive untersucht. Ihr Blick galt damals Frauen, die in den Betriebsfrauenausschüssen der 50er Jahre aktiv waren. Das Hinwegsehen über jene Frauen, die weder (politische) Aktivistinnen waren, noch in Männerdomänen vordrangen, sieht sie heute als »Verkürzung in der eigenen Forschungsperspektive«, d. h. als unkritische Übernahme und Bestätigung des »offiziellen Blicks«. Ihr Projekt zu den Forster Textilarbeiterinnen versteht sie als ihren Beitrag, diese Verkürzungen »zumindest nachträglich auszugleichen und zugleich ein weiteres Stückchen in der Facette der Sozial-und Erfahrungsgeschichte von Frauen in der DDR zu rekonstruieren«. Das ist ihr in beeindruckender, einfühlsamer und zugleich unsentimentaler Weise gelungen.
Petra Clemens: Die aus der Tuchbude. Alltag und Lebensgeschichten Forster Textilarbeiterinnen. Cottbuser Studien zur Geschichte von Technik, Arbeit und Umwelt; Bd. 6. Waxmann Verlag, Münster/New York/Berlin 1998. 148 S., geb.. 29.80 DM.
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