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  • Politik
  • ? Harry Möbis - Erinnerungen an Macht und Ohnmacht in der DDR

Zerplatzt wie Seifenblasen

  • Lesedauer: 4 Min.

Von Günter Benser

Mit diesem Buch hat der Verlag Frankfurter Oder Editionen seine biographischen und autobiographischen Veröffentlichungen um eine aufschlußreiche Rückschau bereichert. Der Autor gehört zu jener Generation, die in den gesellschaftlichen Umgestaltungen Ostdeutschlands ihre persönliche Chance erblickte und ihr Leben eng mit dem Werdegang der DDR verbunden haben.

Harry Möbis überdenkt jene Jahre, in denen er als Leiter der Arbeitsgruppe für Staats- und Wirtschaftsführung im Volkswirtschaftsrat und später im Range eines Staatssekretärs als Leiter der Arbeitsgruppe für Organisation und Inspektion beim Ministerrat und als Leiter des Büros des Ministerpräsidenten der DDR tätig war Er verblieb bis zu den Märzwahlen 1990 im Regierungsapparat, unterstützte den neuen Ministerpräsidenten Hans Modrow in seinem schweren Amte. Der Un-

tertitel »Zwischen Stoph und Mittag - mit Modrow« deutet seinen Standort an.

Bei Möbis gibt es für Entscheidungen und Handlungen immer auch zuständige und letztlich haftende Personen. Der Leser erfährt viel Aufschlußreiches und Charakteristisches über zahlreiche Akteure, über die Ministerpräsidenten Willi Stoph und Horst Sindermann, deren (zeitweilige) Stellvertreter Alfred Neumann, Günter Mittag, Werner Krolikowski und Günther Kleiber, natürlich auch über Walter Ulbricht und Erich Honecker. Erstaunlich blaß allerdings die Anmerkungen zur Person und'Rolle Gerhard Schürers. Vor allem Stoph, der offenbar mehr Durchblick besaß, als er nach außen kundtat, wird wohl als Gestalt der Geschichte erst noch entdeckt werden müssen. Der eigentliche Widerpart, mit dem sich Möbis in seinem damaligen Amte zumindest konzeptionell - gerieben hat und nun als nachdenklicher Autor reibt, ist Günter Mittag. Ihm schreibt er eine hohe persönliche Schuld an der schließlich ausweglosen Situation der DDR zu.

Es erhöht den Wert dieser Memoiren, daß sie nicht im Herbst 1989 abbrechen. Möbis, hoffend auf eine nun möglich erscheinende Erneuerung der DDR, wurde bald klar, wie sehr Modrow und seiner Mannschaft die Hände gebunden waren, alle Bemühungen ins Leere liefen, weil die Autorität des Staates von allen Seiten her unterhöhlt wurde, nicht nur durch ihre Gegner, auch durch die Passivität der orientierungslos gewordenen Mehrheit und nicht zuletzt durch die Wendehalsigkeit so manches Parteigängers und Nutznießers des DDR-Regimes.

Möbis kann sich ein Urteil über die 1989/90 die politische Bühne betretenden Personen erlauben, die er aus engster Nähe erlebte. Er war Zeuge, wie rasch bei manchen der Übergang vom Bürgerrechtler zum Etablierten vonstatten ging, für den die DDR zwar das Handlungsfeld, die BRD hingegen der Richtungsgeber war. Es blättert einiges ab vom Nimbus der Selbstlosigkeit und Unabhängigkeit der »friedlichen Revolutionäre«.

Der eigentliche Reiz des Buches und

die Herausforderung zur Diskussion erwachsen aus der Fragestellung, was da eigentlich mit dem Staat und dem Land DDR passiert ist. Möbis fragt, wie es um die Chancen für eine gesellschaftspolitische Alternative in Deutschland bestellt war, wann und durch wen Weichen falsch gestellt wurden und wieso sich er und seinesgleichen trotz zunehmender Bedenken immer wieder von Hoffnung fesseln ließen.

Es gehört zu den Vorzügen dieses anregenden Berichtes, daß Möbis pointierte Formulierungen nicht scheut. Beispiel: »Unter der Diktatur von Mittag sind die Anfänge einer tatsächlichen Wirtschaftsplanung regelrecht verkommen.« (S. 195) Im April 1988 leistete Schürer »einen Offenbarungseid«, der »bei Honecker wie eine Bombe« einschlug (S. 234). Zur Modrow-Zeit: »Der anfängliche Wille der Regierung Modrow, eine reformierte sozialistische DDR zu erhalten, zerplatzte wie eine Seifenblase.« (S. 368)

Natürlich lassen sich da und dort Bedenken anmelden. Hin und wieder stößt man auch auf unzutreffende oder fragwürdige Aussagen. So hat Ulbricht die Minister für Staatssicherheit aus dem Politbüro erst nach der Abhalfterung von Zaisser und Wollweber ferngehalten (S. 114). Es verwundert auch etwas, daß die

von Ulbricht auf Kosten des Ministerrates betriebene Hervorkehrung des Staatsrates nicht thematisiert wird.

Möbis hat sein Manuskript geschrieben, um nicht in steriler Verbitterung zu enden. Aber Bitternis tritt uns dennoch auf vielen Seiten entgegen. Das wird ihm sicherlich auch von professionellen Delegitimierern der DDR vorgehalten werden. Aber ein Grad von Bitternis ist wahrlich berechtigt.

Gut, daß Möbis auch fragt, wem es eigentlich zu danken ist, wenn im Winter 1989/90 in der DDR niemand verhungert und erfroren ist, wenn in jeder Wohnung das Licht brannte, die Schulen unterrichteten und die Renten pünktlich ausgezahlt wurden? Das haben nicht die einströmenden Bonner Emissäre und auch nicht die Debattierer auf Straßen und bei Demos bewirkt. Das ist denen zu danken, die ihre Arbeit tagtäglich unbeirrt verrichteten, und das gilt auch und nicht zuletzt für viele, die trotz wachsender Anfeindungen auf ihrem Posten im Staatsund Regierungsapparat ausharrten, damit das Land nicht im Chaos versank. Auch daran erinnert dieses Buch.

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