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  • Politik
  • Theatertreffen in Berlin: Peter Zadek inszenierte »Gesäubert« von Sarah Kane

Schnell Atem holen! Schnell!

  • Hans-Dieter Schutt
  • Lesedauer: 5 Min.

Der Augenblick, da wir glauben, die Welt verstanden zu haben, so der Schriftsteller E. M. Cioran, gibt uns das Aussehen eines Mörders. Oder Selbstmörders. Nein: Der Selbstmörder ist kein Mörder, sondern freiester Mensch unter Menschen. Was braucht man für diese Freiheit? Sarah Kane, die 28jährige britische Dramatikerin, brauchte ein Paar Schuhe, eine Toilette und von den Schuhen dann nur die Schnürsenkel. Sie hängte sich auf.

Die heutige scheinbare Notwendigkeit zu konsumieren, so der Brite Edward Bond in der jüngsten Ausgabe von »Theater der Zeit« über die Kane, entspringe nicht dem Wunsch, menschlich zu sein. »Dieser Wunsch ist die Notwendigkeit, das Unerbittliche herauszufordern. Wenn wir es nicht herausfordern und unsere Menschlichkeit finden, wird es uns herausfordern und uns zerstören. Das ist die Logik des 21. Jahrhunderts.«

Das Unerbittliche herausfordern... »Gesäubert«, ein Gastspiel der Hambur-

ger Kammerspiele zum Theatertreffen in Berlin... Die Beklemmung drückt geradezu körperlich, drückt auf den Brustkorb. Atem holen - wann ist das je, nach einer Theateraufführung!, zu einer im Bernhardschen Sinne »existenzerrettenden« Maßnahme geworden? Ja, Maßnahme. Der Körper nimmt wieder jenes Maß auf, das Hineinfinden ins Alltägliche ermöglicht.

Mutet seltsam pathetisch an - wo doch andere Zeitungen von »Pornographie« und »saurem Kitsch« schreiben. Und vom Selbstmord der Kane nicht automatisch zu schließen bereit sind auf die »Überlebensfähigkeit« ihres Werkes.

Ein Schock. Das Stück, die Inszenierung. Man wird hinausgeschleudert in ein Draußen, das einen dann, wenn man wirklich wieder draußen ist, für wichtige Momente die Welt anders sehen läßt. So furchtbar, wie sie ist. So, wie man es weiß und, gottlob, immer wieder verdrängen darf, um nicht zu verzweifeln. (Schuhe, Toilette, Schnürsenkel).

Grace sucht ihren Bruder Graham, der am »Goldenen Schuß« starb. In einem kalten, grüngekachelten Labor oder Leichenschauhaus oder Anstaltsraum trifft

sie auf einen Jungen, der Grahams Sachen trägt. Das Mädchen wird die Kleider des Bruders selber anziehen; schon tritt der Tote, mit dessen Geist sie mehr und mehr verwächst, auch wieder als reale Gestalt tröstend, helfend neben sie - am Ende wird Grace selber zum Mann transplantiert sein. Blutig, stumm, leblos lebend.

Das dauert etwa eine Stunde. Aber der Horror zwischen dem Anfang, der nie ist, und dem Ende, das nicht aufhören will! Die kurzen; filmschnittartig gebauten Szenen beherrscht ein Arzt, er terrorisiert ein Schwulenpärchen, schneidet einem der beiden ab, was Leben miteinander ermöglicht. Zunge, Hände, Füße. Er macht das Mädchen Grace zum Objekt seiner Psychofolter; in einer Peepshow onaniert er, schläft mit der Tänzerin ...

Peter Zadeks Theater zeigt alles, was ja wohl nicht des Theaters ist, weil es im Zeitalter »neuer Medien« nur abgestanden, geschmack- und hilflos wirken kann: Es wird geschrien, es wird sich ausgezogen, es wird gemetzelt, es wird stranguliert, es wird miteinander geschlafen, es spritzt Blut. Aber nichts wirkt abgestan-

den, geschmack- und hilflos. Die grellen, schreienden Kopfinnenbilder der Sarah Kane bringt Zadek mit einer schnellen, trockenen Lakonie auf die Bühne, die jedwede Stilisierung vermeidet. Das ist der eigentliche brutale Akt der Inszenierung, die dennoch, gerade im Selbstverständlichen ihrer traurigen Schutzlosigkeit und bohrenden Schamlosigkeit, immer alarmierendes Zeichentheater bleibt.

»Gesäubert« ist die schmerzende Verdichtung eines allumfassenden Gefoltertseins heutiger Zivilisationsmenschen. Unsere Welt aus Grausamkeit zerreißt in ihrer Angst vor jenen Alpträumen, die sie doch just aus dieser Angst heraus ständig produziert. Einer rundum verkrümmten Sehnsucht nach Freiheit entspringt immer wieder das Gegenteil - gesellschaftliche Mechanismen perfidester Überwachung und Selektion. Der allseits erdrückten Hoffnung auf wirkliche Liebe entkeimt überall jener allgegenwärtige Ordnungssinn, der nur Strafe kennt und Züchtigung.

Der Arzt, der die beiden Homosexuellen zerstört, entzieht ihnen Liebe, die er selber sucht. Haß und Zuneigung, Opferund Tätergewalt, virtuelles und reales Dasein, Glücksleiden und Unglücksgenuß - wer kann noch die Grenzen ziehen, wo sind diese Grenzen in uns selber?

Sarah Kane bringt die Widersprüche des Lebens auf den letzten unerträglichen Punkt: »Liebe oder töte mich« (Grace). Herausforderung des Unerbittlichen, das

die Zwischentöne ausschließt und sich der Normalität verweigert. Normalität: Ein normaler Mensch kann nicht töten so wenig, wie er wirklich uneingeschränkt lieben kann. Aber die Sehnsucht ist da, der Wille. Fangen wir mit dem Töten an.

Susanne Lothar als Grace: eine verstörte, erschütternd reine Heilige. Ulrich Mühe als.kalter Engel der Chirurgie: ein Sadist, der doch menschliche Augen hat. Philipp Hochmair und Knut Koch als Schwule sowie August Diehl als der verstörte Junge Robin, der sich den Quälereien des Arztes und unbeholfener Liebe zu Grace durch Erhängen entzieht, Uwe Böhm als Bruder von Grace und Gabi Herz als Peepshow-Tänzerin: ein Ensemble fast verschwörerischer Intimität und Intensität, das in keiner Situation von sich selber wegspielt. Alles Folterkammer, aber immer wieder Menschenjammer Rüde und rührend.

Edward Bond sagt in erwähntem »Theater der Zeit«-Artikel, Sarah Kane habe Autorität besessen, indem sie das Unerbittliche herausfordern mußte, und sie hätte es gern auf dem Theater getan. Aber sie habe nicht warten können, bis sich das Theater wieder seines Verständnisses und seiner Mittel erinnere. Ihr Tod sei «ihr Kommentar zur Bedeutungslosigkeit ... unseres Lebens und der falschen Götter. Ihr Tod ist der erste Tod des 21. Jahrhunderts.«

Atem holen! Schnell!

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