- Politik
- Auf den Spuren von Dostojewski in Deutschland
Der besondere russische Weg
Von Michael Wegner
Literaturwissenschaftlich mag es unerheblich sein, ob in Dostojewskis bekanntem Roman »Der Spieler« (1866) die Spielkasinos von Wiesbaden, Bad Homburg oder Baden-Baden den Handlungsort darstellen. Aber für die Biografie des Dichters, für seinen künstlerischen Umgang mit der realen Wirklichkeit, für die Genesis seiner Werke ist es schon wichtig, wenn aufgehellt werden kann, was Dostojewskis Aufenthalte in Deutschland für ihn und sein Werk bedeuteten. Auch sind die zahlreichen Äu-ßerungen des Schriftstellers über
Deutschland und die Deutschen für das tiefere Verständnis der wechselvollen Geschichte der russisch-deutschen Beziehungen von beträchtlicher Bedeutung.
In dieser Hinsicht leistet das Buch der Slawistin und Germanistin Karla Hielscher, die als freie Publizistin in Bochum lebt, bemerkenswert viel. In mühevollen Recherchen hat sie eine beeindruckende Fülle an Materialien ermittelt, die Dostojewskis Aufenthalte in Deutschland zwischen 1862 und 1879 dokumentieren: Briefe des Schriftstellers, in denen er sich über die deutschen Verhältnisse äußert, publizistische Bemerkungen über Deutschland, ferner die Tagebuchnotizen von Dostojewskis zweiter Frau Anna Grigorjewna, die ihren Mann auf seinen Rei-
sen häufig begleitete und ihre gemeinsamen Aufenthalte in deutschen Städten ausführlich beschrieb. Karla Hielscher hat sogar die entsprechenden deutschen Reiseführer ausfindig gemacht, die Dostojewski zur Planung seiner Reiserouten benutzte, etwa einer Dampferfahrt auf dem Rhein, die - damals wie heute - zum Pflichtprogramm jedes russischen Deutschlandreisenden gehörte.
Dostojewski ist zwischen 1862 und 1879 neun Mal in Deutschland gewesen. Während die Reisen bis 1871 sehr stark von seiner Spielleidenschaft motiviert waren, erfolgten die anschließenden Fahrten nach Bad Ems in der vagen Hoffnung, die zerrüttete Gesundheit wiederherzustellen. Fünf größere Kapitel des Buches sind
den Orten gewidmet, in denen Dostojewski längere Zeit verbrachte: Wiesbaden, Bad Homburg, Baden-Baden, Dresden, Bad Ems. Wiesbaden ist der Ort, an dem Dostojewskis Spielsucht ihren Anfang nimmt. Hier endet sie auch, denn im Frühjahr 1871 gelingt es dem Schriftsteller unter dem bestimmenden Einfluss seiner Frau, die qualvolle und selbstzerstörerische Leidenschaft endgültig zu überwinden.
Es sind nicht allein Dostojewskis genaue und ironische Einblicke in den glanzvollen Spiel- und Badebetrieb der deutschen Kurorte, die das Buch lesenswert machen. Die Verfasserin bietet entschieden mehr. Sie erinnert zu Recht daran, dass Dostojewskis Romane ohne die Aufenthalte in Deutschland und Europa nicht zu denken sind. In Wiesbaden entstanden der Plan und die ersten Kapitel von »Schuld und Sühne«, dem »Spieler«-Roman liegen Dostojewskis Rouletteerfahrungen aus den deutschen Spielorten, zugrunde, in
Dresden schrieb er große Teile der »Dämonen«, hier erlebte er die Faszination der Gemäldegalerie, die sich in seinen Spätwerken literarisch niederschlug, und in Bad Ems arbeitete Dostojewski an dem Roman »Der Jüngling«, am »Tagebuch eines Schriftstellers« und an »Die Brüder Karamasow«. Und was für das Weltbild Dostojewskis höchst bedeutsam werden sollte: In Deutschland wie in den anderen westlichen Ländern erlebte er den Gegensatz zwischen Russland und dem Westen. Durch seine Reisen fühlte er sich in der Auffassung bestärkt, Russland müsse einen eigenständigen historischen Weg einschlagen, der weder sozialistisch-revolutionär noch bürgerlich-kapitalistisch sein dürfe. Diese Überzeugung Dostojewskis prägte seine »russische Idee«, die im heutigen Russland viele Anhänger findet.
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