Kleine Balkanreise mit Tucholsky im Gepäck
Serbische Vojvodina: Wahrnehmungen zwischen Natur und Urbanität, Geschichte und Gegenwart
Deutsche Touristen stünden im Ausland, so meinte jedenfalls Kurt Tucholsky, immer vor der Frage, ob sie sich benehmen müssten, oder ob vor ihnen ohnehin schon Deutsche da gewesen seien.
Ein bissiges Wort, das allerdings seinerzeit, nämlich Ende der 20er des vergangenen Jahrhunderts, weithin eher als kabarettistischer Gag empfunden worden sein dürfte. So richtig bitter aufgeladen wurde die Pointe erst durch die ebenso profan geplante wie irrsinnige Blutorgie, mit der später Nazideutschland Europa überzogen hat.
Spätestens seither stellt sich bezüglich deutscher Touristen in Europa die Frage des Benehmens nicht sarkastisch, sondern moralisch. Und weniger als eine Frage des Benehmens, sondern mehr des Wahrnehmens.
Nun will man ja als Tourist im Ausland, zumal als Urlauber, zwar auch Wahrnehmen, vor allem aber doch viel mehr vergessen. Den Alltag, alles eben. Genau das kann man auch sehr gut in den Stillen und Weiten der Vojvodina, dem nördlichen Teil Serbiens, tage- und sogar wochenlang; diese autonome Provinz ist etwa so groß wie Mecklenburg-Vorpommern. Doch wer sich nicht gerade vehement dagegen sträubt, der wird hier auch daran erinnert wahrzunehmen. Natur wie Urbanität sowieso, aber eben auch Geschichte und Gegenwart gleichermaßen.
*
An der Sava bei Sremska Mitrovica ziehen sich, als Naturreservate geschützt, die letzten zusammenhängenden Auenwälder Europas entlang. Flaches Land, dem der Wechsel von Sumpf, Feuchtwiesen, Weide und Wald einen ganz sanften Reiz verleiht. Das bislang von keiner kanalisierenden Flussbegradigung gestörte natürliche Zusammenspiel von Geologie und Wasser, Flora und Fauna bringt seit Jahrtausenden ein einzigartiges Biotop hervor. Bosadir Popovic, Biologe im Zasavica-Reservat, zeigt dicht überm Bootsrand auf die Biberkolonien. »Den längsten Damm haben wir mit über 50 Meter vermessen«, sagt er. Ein Storch schwebt über den mit Wasserrosenkolonien übersäten Flusslauf. Hier räubert auch die seltene Mrguda, erklärt Popovic. Mrguda klingt irgendwie nach mrgodan (serb.-kroat. mürrisch). Völlig zu Recht, wie wir später in der Naturkundeausstellung sehen werden; so richtig griesgrämig sieht er aus, der laut Texttafel auf deutsch Hundsfisch heißt und in Mitteleuropa bis in die gerade vergangenen 80er Jahre als ausgestorben galt.
Während wir uns, in dem flachen Holzboot im Schilf liegend, genüsslich der Natur hingeben, schwebt irgendwo in den EU-Behörden das Damoklesschwert über eben dieser Auenlandschaft. Die Regierungsbehörden der Anrainerstaaten wollen die Sava nämlich als bereits »erheblich verändertes Gewässer« einstufen lassen - was vergleichsweise so viel bedeuten würde wie die Umwidmung von Wiesen- in Bauland ...
*
Zurück im nahen Sremska Mitrovica, einer Stadt mit rund 40 000 Einwohnern. In der Abteilung für die ältere Zeit erinnert das Stadtmuseum von Herennius Etruscus über Aurelian bis Gratian an ein Dutzend hier geborener spätrömischer Kaiser; das antike Sirmium war eine bedeutende Residenzstadt. Aus neuerer Zeit sind die nazideutsch gesteuerten bestialischen KZ-Mordtaten gegen Serben durch kroatische Ustascha-Faschisten aus dem Zweiten Weltkrieg dokumentiert.
Zehn Kilometer nördlich zieht sich die Fruska Gora entlang, ein mittelgebirgiger Alpenausläufer, ebenfalls als Nationalpark ausgewiesen. Sie ist in der flachen Vojvodina, über der in grauer Vorzeit das Pannonische Meer lag, eine der wenigen Landmarken. Ein ansonsten in Steppen beheimateter kreisender Kaiseradler deutet an, dass wir uns in der Vojvodina genau genommen in einer Enklave eben dieser Steppen befinden, die im Osten durch die Karpaten von diesen eurasischen Weiten abgekapselt ist.
Die Gegend hier wird auch gern das serbische Athos genannt: 17 christlich-orthodoxe Klöster auf engstem Raum, im balkanischen Norden Ende des 15. Jahrhunderts gegründet. Damals hatte der im Süden immer stärker werdende osmanische Druck die Serben aus der Kosovogegend, dem eigentlichen spirituellen und kulturellen Hort Serbiens, hierher getrieben. Im Kloster Krusedol, versichert Mönch Maxim, habe sich einst die reichste Schatzkammer der Vojvodina befunden. »Wenn Sie sich davon überzeugen wollen, müssen Sie allerdings zurück nach Belgrad fahren«, sagt er mit diesem traurig-feinen Lächeln, das man in der serbischen Provinz überall antrifft, von wo Kunstgüter als »Leihgaben« ins Nationalmuseum expediert worden sind. Nicht zu nehmen ist der Fruska Gora indes ein Schatz ganz besonderer Art: Rund ein Drittel ihres Waldes besteht aus Linden. Wer als Tourist, speziell als Fahrradtourist einmal in der Blütezeit da war, kann Berlinern gern mal berichten, was Walter Kollo mit »Untern Linden, untern Linden« eigentlich gemeint haben könnte.
*
Auf der der Fruska Gora gegenüberliegenden Donauseite liegt Novi Sad, Verwaltungszentrum der Vojvodina, berühmt durch die Festung Petrovaradin. Jahrhun᠆dertelang war sie das wichtigste gegen das Osmanische Reich gerichtete westliche, präziser: habsburgische Verteidigungs- und Aufklärungszentrum. Inzwischen ist die Feste glücklich zum Fest geworden. Alle Jahre wieder kommen hierher Anfang Juli eine Woche lang Hunderttausend Hard-Rock- und Punkfans zum Exit-Musikfestival. Ihnen zu Füßen umschließt die Donau in kühnem Bogen die Altstadt. NATO-Flieger hatten 1999 während des sogenannten Kosovokrieges alle drei Brücken zerschmettert, mit vielen, in westeuropäischen Medien gern verschwiegenen tödlichen »Kolateralschäden« unter der Bevölkerung. Zerbombt wurden ebenso die Erdölraffinerie sowie das Funk- und Fernsehzentrum.
Auf schlichten Metalltafeln im Stadtbild werden die Opfer genannt. »Wir hoffen, dass Europa und EU künftig für uns mehr sind als diese NATO-Erinnerungen«, sagt Radovan Jokic, promovierter Kulturwissenschaftler, Maler und kommunaler Kulturpolitiker. Am Donauufer gemahnt übrigens eine Skulpturengruppe an noch viel schlimmere Ereignisse. Im Januar 1942 wurden bei einer »Vergeltungsmaßnahme« gegen Aktionen der Tito-Partisanen von den nazistischen Besatzern fast 4000 serbische Zivilisten erschossen, erschlagen und ertränkt. Nach dem Zweiten Weltkrieg lieferten die Westalliierten die verantwortlichen Oberste und Generäle der Waffen-SS nach Jugoslawien aus. Drei sind nahe von Novi Sad im Dörfchen Zabalj hingerichtet worden.
*
Die Vojvodina ist ein Naturparadies, sie ist aber ebenso die industriell am meisten entwickelte Region Serbiens. Ein aktuelles Paradebeispiel dafür ist Zrenjanin. Heute arbeiten hier zwar nur noch rund 1500 Menschen statt der 10 000 zu jugoslawischen Zeiten in der Textilindustrie. Doch die Stadt, die den Namen eines Partisanenkommandeurs trägt, ist inzwischen ein Magnet für die internationale IT-Branche und Metallverarbeitung geworden, denen mitunter die Produktion im nahen Ungarn oder auch Rumänien zu teuer wurde. »Anfragen von Investoren werden bei uns in 24 Stunden erledigt«, versichert Ivan Devic, im Bürgermeisteramt für Wirtschaftsförderung zuständig.
Rund 30 Nationalitäten leben in der Vojvodina. Zwei Drittel sind Serben, aber zu den anerkannten einheimischen Minderheiten gehören unter anderen Ungarn und Slowaken, Kroaten und Rumänen, Bunjewatzen, Sokci und Russinen, Deutsche und Bulgaren, auch die Roma.
In der Stadt Vrsac (kleine Artikulationshilfe: Wyrschatz) ganz im Osten sind die Amtssprachen und -schilder beispielsweise Serbisch, Rumänisch und Ungarisch. So wie Wladimir Bajus, der in der Kreisverwaltung arbeitet, oder Ivana Varga, die bei der örtlichen Tourismusorganisation angestellt ist, sind viel Leute auch familiär multikulti verbandelt. »Das ist hier ganz normal«, sagt Bajus, »denn wir sind Leute der Vojvodina, aber eben auch Banater«. Das historische Siedlungsgebiet Banat teilen sich seit dem Ende des Ersten Weltkrieges Rumänien, Ungarn sowie einst Jugoslawien, nunmehr Serbien. Der Ungarische Schriftsteller Ferenc Herceg, der in Vrsac geboren wurde, widmete seiner Heimatstadt den Roman »Die sieben Schwaben«.
*
Das Banat war einst stark deutsch geprägt. Im Stadtpark von Vrsac steht eine Büste des Banater Nikolaus Lenau. Doch Deutsche gibt es hier heute kaum noch. Sie wurden nach dem Zweiten Weltkrieg vertrieben. In der Mehrzahl traf das wie immer in der Geschichte Unschuldige. Aber der Rachedurst war groß. Leute wie der Wehrmachtsoberstleutnant Fritz Bandelow und der »volksdeutsche« Zivilist Hermann Brumm waren verantwortlich dafür. Der eine im Frühjahr 1941 als Stadtkommandant im Vojvodina-Städtchen Pancevo, der bestimmte, 36 Geiseln, wahllos aufgegriffene Männer, Frauen, Kinder, zu töten. Der andere, ein Einwohner von Pancevo, als freiwilliger Henker, der, wie später mehrfach bezeugt, die Fässer mit dem Fuß umstieß, auf die seine zu henkenden Mitbürger mit der Schlinge um den Hals gestellt worden waren. Heinrich Köller musste das, wie er in seinen Erinnerungen schreibt, als Achtjähriger miterleben: »Mit dieser Massenexekution in meiner Geburtsstadt Pancevo endete eine friedliche Kultur des Zusammenlebens zwischen uns Donauschwaben und den Serben.« Die bundesdeutsche Justiz stellte ein Verfahren 1973 ein. Mit der Begründung, dass »aufgrund der getroffenen Ermittlungen nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden (kann), dass es sich bei der Verurteilung und Hinrichtung der 36 Personen um eine zulässige Repressalie handelte«.
Wer als deutscher Tourist in die Vojvodina fährt, wird mit offenen Armen empfangen. Wir sollten das sehr schätzen. Ohne Schuldgefühl, aber nicht als völlig selbstverständlich nehmen. Und gelegentlich an Kurt Tucholsky denken. Nicht nur auf dem Balkan.
Infos: Nationale Tourismus Organisation Serbiens, Čika-Ljubina 8, 11000 Beograd, Serbia. Tel.: ++381 (0)11 6557-100, Fax: -2626-767, E-Mail: info@serbia.travel, Web: www.serbia.travel, www.tos.rs
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.