Klostergeflüster mit Geräuschkulisse

Bewegungen und Ruhepunkte in der russischen Hauptstadt Moskau

  • Peter Kollewe
  • Lesedauer: 7 Min.
Maria-Entschlafens-Kathedrale im Kreml
Maria-Entschlafens-Kathedrale im Kreml

Nach Archangelsk, so steht's am Straßenrand, sind's 1240 Kilometer. Ein Klacks die 70 Kilometer bis zu unserem Ziel, dem einstigen Beamtenstädtchen Sergijew Possad, das, wie unsere Begleiterin Natalia Iwtschenkowa erzählt, Jahrzehnte jüngerer Geschichte den Namen Sagorsk trug, auf rund 100 000 Einwohner anwuchs, gut zehn Rüstungsbetriebe hatte und demzufolge Sperrgebiet war. Nun ja, jetzt nicht mehr.

Eine Landstraße führt in hügeliges Terrain. Und plötzlich - ein Postkartenpanorama, das Sergius-Dreifaltigkeitskloster: weiße Mauern mit Wehrgängen und Schießscharten, Türmen und Türmchen, golden und tiefblau die Kuppeln. Mittendrin der höchste Glockenturm Russlands, einschließlich Kreuz 88 Meter hoch, der von 1740 bis 1770 nach den Plänen der Architekten Mitschurin und Uchtomskij gebaut wurde. Sergej, Dozent und zudem im Pilgerzentrum des Klosters tätig, kennt nicht nur die wechselvolle Geschichte des Klosters, sondern auch die der Glocken. Er selbst gehörte einige Male jener Truppe an, die die riesigen Klöppel der Giganten, zwei 40 und 27 Tonnen schwere Glocken, ziehen muss. »Zehn Minuten, länger stehen selbst trainierte Männer das nicht durch. Und an Feiertagen ist bis zu eine Stunde Läuten angesagt«, Sergej lässt schmunzelnd seine Worte wirken, als eben tiefes Glockengedröhn sprichwörtlich Mark und Bein erschüttert. Es hat die volle Stunde geschlagen, untermalt von Geläut und Gebimmel 23 kleinerer Glocken und Glöckchen, 49 waren es noch 1919 ...

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Klöster spielten in der Geschichte Russlands stets eine dominierende Rolle - als Zentren des Glaubens, für Kunst und Kultur, wehrhaft zur Verteidigung und als Kristallisationspunkte für neue Ansiedlungen. Kirchliches und Weltliches waren in den vergangenen Jahrhunderten einzigartig verwoben, vom Zaren- und Fürstenkloster ist häufig die Rede. Hier holten sich die Herrscher den Segen für ihre Feldzüge. Und dankten es mit baulicher Verewigung. Iwan der Schreckliche ließ nach dem Sieg über die Tataren hier in Sergijew Possad die Maria-Entschlafens-Kathedrale errichten. Zwei der Kirchen des Klosters gehen auf Peter den Großen zurück. Die Herrscher hatte hier ihre eigenen Paläste, ebenso die Metropoliten des Landes. Mit »Schwielen und Scharten und Zukunftsängsten«, die heute noch sichtbar sind, wurde die Sowjetzeit überstanden. Heute ist es Ziel ungezählter Pilger aus Nah und Fern. Sie kommen der Ikonen oder des heilenden Wassers wegen, dessen Quelle beim Bau der Entschlafens-Kathedrale entdeckt wurde. Nicht zuletzt wird der Priesternachwuchs herangebildet. 700 Studenten sind an der hier ansässigen Moskauer Geistlichen Akademie eingeschrieben. Moskau, richtig, der Arm des Kreml reicht weit. Das Kloster ist Staatseigentum, muss sich aber selbst finanzieren, durch eigene Bewirtschaftung, Sponsoren und Tourismus. Zu guter Letzt greift der Staat wieder zu - die Kirche in Russland ist steuerpflichtig.

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Scheint die Sonne, blitzt und funkelt nicht nur Sergijew Possad. Auch für Moskau ist das kein Kunststück. Dessen Panorama erschaut man am besten von den Lushniki-Bergen. Jede Stadtrundfahrt, die etwas auf sich hält, macht hier Station. Der weltbekannte Sportkomplex liegt einem zu Füßen. Linker Hand recken sich Bürotürme in die Höhe, in Grau und Schwarz gehalten - das künftige Regierungsviertel. Im Rücken die Universität. Sie trägt den Namen Michail Lomonossows, der ihre Gründung 1755 anregte. An drei Fakultäten kümmerten sich damals zehn Professoren um 30 Studenten! Auch das heutige Verhältnis von rund 30 000 Voll- und Teilzeitstudierenden zu 8500 Professoren, Wissenschaftlern und Angestellten mag an deutschen Universitäten Seufzen auslösen. Mithin - der Baustil des Ensembles, mit dem Begriff Zuckerbäcker gekoppelt, ist weltbekannt. Und war offenbar einst städtebaulich ein Renner - sechs »Kopien« finden sich über Moskau verstreut: Zwei sind Wohnungskomplexe mit jeweils 700 Wohneinheiten, zwei sind Hotels und in zweien haben Ministerien ihren Sitz.

Natürlich findet sich hier oben in den Lushniki-Bergen auch ein Kirchlein. Ein Großer der russischen wie auch der Weltgeschichte verbrachte hier einst betend eine ganze Nacht - General Michail Kutusow und zog dann in die Schlacht von Borodino, die am 7. September 1812 reichlich 100 Kilometer westlich von Moskau ihren blutigen Anfang nahm. Von hier oben aus betrachtete kurze Zeit später der Widerpart - Napoleon - das brennende Moskau, um danach seinem militärischen und politischen Ende entgegenzureiten. Fluchtartig, wie wir wissen. Aller »guten« Dinge sind drei: Präsident Wladimir Putin soll gelegentlich zum Gebet im Kirchlein weilen. Wird zumindest gesagt.

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Keiner kommt so einfach am Roten Platz vorbei. Dessen Geschichtsträchtigkeit muss nicht extra betont werden: Vorm geistigen Auge marschiert Militär, demonstrieren Werktätige, stehen Touristen Schlange am Leninmausoleum. Der Mythos ist Vergangenheit. Das Auferstehungstor am Historischen Museum, 1931 abgerissen, um bei Paraden dem militärischen Gerät beste und breite Zufahrt zu ermöglichen, wurde 1995/96 als originalgetreue Kopie wiedererrichtet. Heute ist der Platz Ort für allerlei Events, beispielsweise für die Sportvereine der Stadt, die die Jugend zu mehr Bewegung, weg vom Computer verleiten wollen. Auch der Spitzname »Scheremetjewo III« für einen Teil des Roten Platzes verweist auf ein Kuriosum - den Tag, als Michael Rust vor 25 Jahren hier mit seinen Flugzeug landete. Stimmung bis in die tiefe Nacht. Das Edelkaufhaus GUM und viele Gebäude rundum erstrahlen in schreiendem Glanz. Und die ganze Familie freut sich darüber, wie munter die einjährige Aljonuschka noch gegen 23 Uhr übers Pflaster tippelt.

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Wenn sich am Manegenplatz Parteien oder Organisationen treffen, laden die Sicherheitskräfte zu Hindernis- und Suchläufen ein. Die Moskauer nehmen's gelassen, Touristen suchen etwas ratlos »neue« Wege. Auf den Uferstraßen ist es noch lauter. Rund um den Kreml ebenfalls. Kein Halten, nicht mal zum Aussteigen. Die »Men in black«, für den Film wurde eben stadtweit geworben, winken lässig aber bestimmt. Noch eine Runde ums Zentrum, ein kleiner Fußmarsch. Dann das »Loch« zum Kreml. Angekommen. Geht doch. So ruhig wie an jenem Tag war es im Zentrum der Macht lange nicht, versichert Natalia Iwtschenkowa. Geschätzte zwanzig Reisegruppen, verliefen sich über Kathedralenplatz und in den Gotteshäusern oder in der Staatlichen Rüstkammer, eine der größten Schatzkammern der Welt. Zur allgemeinen Ruhe hinter den Kreml-Mauern kommt nun noch die Atemlosigkeit angesichts der Pracht und des Reichtums. Und plötzlich sehnt man sich nach dem Puls der Stadt, Straßenlärm, Autohupen ...

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Prachtvolles gibt es in dieser Stadt auch anderswo. Schaut man von der Bahnstation Potylicha über die Moskwa, blickt man auf beinahe Märchenhaftes - das Neue Jungfrauenkloster. Ein Nonnenkloster wollte er in Moskau bauen, gelobte Großfürst Wassili III. im Falle eines Sieges in der Schlacht um Smolensk im Jahre 1514. Es sollte vorerst bei einer, der Smolensker Kathedrale, bei Mauern und Türmen bleiben.

Das Kloster blühte unter der Regentschaft von Sofia, der Halbschwester der damals noch zu jungen Iwan V. und Peter I. auf. Letzterer zwang sie 1689 zum Rückzug ins Neujungfrauenkloster. Sie ist hier begraben. Wie andere »Jungfrauen« auch, die manch Herrschenden zu gefährlich, zu unbequem wurden. Jewdokia Lopuchina, die verstoßene erste Frau von Peter dem Großen beispielsweise. Auch Witwen und Töchter von Fürsten und Bojaren kamen ins Kloster. Da die meist fürstliche Verwandtschaft nicht eben knauserig war, schlug sich das in umfangreicher Bautätigkeit und prachtvoller Ausstattung nieder. Bis 1922, als die Sowjetmacht das Kloster auflöste. Und seit 1994 erneut, da einige Nonnen wieder an die Klostertradition erinnern.

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Gibt sich das Kloster in würdevoller Stille, ist nebenan ein wahrer Ort der Stille eben jener beraubt. Es ist der Nowodewitschij-Friedhof. Wer aus Politik, Wissenschaft und Kultur sich ums Vaterland verdient machte, fand hier seit 1898 seine letzte Ruhe. Über die schwappt eine Welle von Besuchern nach der anderen - aus Russland, Norwegen, Japan, Frankreich, Deutschland ... Die Fähnchen der Reiseleiter schaukeln über den Köpfen. Selbst aber taucht man ein in eine vielfach nahe Vergangenheit vis-à-vis der letzten Ruhestätten: die Komponisten Dmitri Schostakowitsch, Sergej Prokofjew, der Flugzeugkonstrukteur Andrej Tupolew, Stalins erste Frau Nadeshda Allilujewa, deren Grab er nie besucht haben soll. Die ehemaligen Außenminister Wjatscheslaw Molotow und Andrej Gromyko. Nikita Chruschtschow, der Mann der nach Stalin kam, ruhen hier, wie auch die Schriftsteller Nikolai Gogol und Anton Tschechow oder der Revolutionär und Anarchist Pjotr Kropotkin. Etwas ausgefallen das Grab von Boris Jelzin, in Form wie auch in Farbgebung: rot, blau, weiß - krasnij, golubowoi (wobei hier ein Zustand gemeint ist), belij - kurz KGB. Ach, der Volksmund!

  • Infos: Die Städtereise Moskau ist buchbar bei Studiosus, Postfach 50 06 09, 80976 München, Tel.: (089) 500 60 700, E-Mail: tours@studiosus.com, www.studiosus.com; Für die Einreise nach Russland ist ein Visum nötig, der Reisepass muss bis sechs Monate über das Reiseende gültig sein.
  • Literatur: Baedecker Moskau mit Special-Guide 2011, Dorling Kindersley Top 10 Moskau, (2011/2012)
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