Der Kunde als Zombie
Am »Kauf-Nix-Tag« verzichten weltweit Menschen darauf, Geld auszugeben
Müde Gesichter beugen sich über Bücher oder blicken aus dem Fenster, während graue Häuser daran vorbeiziehen. Es ist ein später Nachmittag im Herbst, die S-Bahn bahnt sich ihren Weg durch Berlin. Plötzlich steht eine junge Frau auf und entfaltet ein riesiges Plakat. Dann fängt sie an zu sprechen.
Olga Kusmina hält Reden. Ungefragt und überall. Ihr Hauptziel sind aber die vielen Fahrgäste, die sich täglich in den Berliner Nahverkehr schieben. Vor über einem Jahr hat sie damit angefangen. Sie will damit die Leute zum Nachdenken bringen: über sich selbst, ihr Konsumverhalten, die Ungerechtigkeiten der Welt, die verhindert werden könnten. »Ich glaube daran, dass jeder von uns einen Beitrag leisten kann«, sagt sie. »Das ist meiner.« Dafür hat sie die Geschichte von Mary erfunden, einem 12-jährigen Mädchen irgendwo in Afrika. Mary stellt in einer Fabrik für einen Dollar pro Tag T-Shirts her. Olga zeigt auf dem Plakat die einzelnen Stationen, die das T-Shirt im Kreislauf der Textilindustrie passiert. Sie öffnet kleine Fenster aus Papier, erklärt, wer wo Profit macht. Und wie das T-Shirt schließlich über Altkleidersammlungen wieder im Ursprungsland endet - und dort die Preise für heimische Produktionen noch weiter drückt. Olgas Stimme zittert erst, dann ist sie entspannt. Ein wenig Stolz liegt darin, als sie ihre Ansprache beendet. Die Gesichter aber behalten den gleichen müden Ausdruck. Die Fahrgäste heben kaum den Kopf. »Das ist normal«, sagt die 25-Jährige. Sie lässt sich davon nicht entmutigen: »Die müssen ja zuhören. Dann beschäftigen sie sich vielleicht auch damit.« Manchmal klatschen die Leute sogar. Oder sie sagen etwas Zustimmendes. »Das passiert aber meistens nur beim Aussteigen, wenn es kein anderer mitbekommt«, sagt die Studentin.
Im Moment plant Olga einen besonderen Auftritt. Am Samstag ist »Kauf-Nix-Tag«. Während schon am »Schwarzen Freitag« in den USA und Kanada bei Walmart und anderen Kaufhaus-Giganten Aktionen liefen, ist einen Tag später die ganze Welt dran. Wer am »Kauf-Nix-Tag« teilnimmt, der entzieht sich für 24 Stunden dem Kommerz - genau zum Auftakt der Shopping-Saison für Weihnachten, in Nordamerika dem umsatzstärksten Tag des Jahres. Viele machen einfach mit, um sich auf Wirkliches und Wichtiges zu besinnen - also etwas, wofür einmal Sonntage und die Adventszeit standen. Andere, wie Olga, wollen weiter gehen. Denn »Kauf-Nix-Tag«, das ist für die Konsumkritikerin sowieso fast das ganze Jahr über: »Außer Essen kaufe ich eigentlich nichts.« In der Freizeit verzichtet Olga auf alles, das Geld kostet. Stattdessen geht sie auf Tauschpartys. »Da bekomme ich auch meine Klamotten her.« Oder sie diskutiert in Foren. Wie man zum Beispiel ohne Kühlschrank auskommen kann: »Es gibt Topf-in-Topf-Systeme, die werden auch von Wüstenvölkern benutzt«, erzählt sie. Ihr neuestes Projekt: Auf Shampoo verzichten, das ihre langen schwarzen Haare nur unnötig von Chemie abhängig mache.
Deshalb will Olga auch am »Kauf-Nix-Tag« sprechen. Über das Internetportal couchsurfing.org hat sie schon zehn Leute gefunden, die dabei sein wollen. Mit einer von ihnen trifft sie sich in der Mensa der Freien Universität Berlin. Die beiden teilen sich einen Teebeutel für zwei Tassen heißes Wasser und überlegen, welche Ideen passen. Die bisherigen Teilnehmer würden am liebsten einen bunten Abend machen: gemeinsam Lebensmittel aus Supermarkt-Mülleimern besorgen, Filme über Nahrungsmittelindustrie zeigen, Nicht-Mehr-Gebrauchtes tauschen. »Containern und zusammen kochen ist gut, aber zuerst müssen wir raus!«, sagt Olga. Die Vorschläge reichen von Shoppen in Zombie-Verkleidung, öffentlichem Kreditkarten-Zerschneiden bis zu einer Minidemo mit leeren Einkaufskörben. In einen von denen will Olga steigen und die Geschichte von Mary erzählen, vor möglichst vielen Zuschauern. »Wo machen wir das? Brauchen wir Plakate? Sollen wir der Presse Bescheid sagen?«, fragt die gebürtige Ukrainerin. Die anderen werden mitziehen, daran zweifelt sie nicht. Auch bei »Kauf-Nix-Weihnachten«, das als nächstes ansteht.
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