Onkel Walter und Billy

  • Mathias Wedel
  • Lesedauer: 3 Min.

Onkel Walter war der Star aller Familienfeiern meiner typenoffenen Sippe, wie Leichenschmaus oder Konfirmation. Manchmal musste er aussetzen, und die Tante entschuldigte seine Abwesenheit: Er sei im Auftrag der Regierung unterwegs. Wir wussten, er war mal wieder im Knast. Doch wenn er mitfeiern konnte, ließ er nach der dritten Runde Schnaps einen Neckermann-Katalog herbeischaffen, schlug eine Seite auf und deutete auf irgendwelche Scharniere oder Bolzen. »Ohne mich«, rief er aus »würde der Westen nicht mehr existieren.«

Onkel Walter fiel mir ein, als neulich eine neue Folter in der DDR entdeckt wurde - die Arbeitsfolter im Gefängnis. In einem perfiden System hat das Regime seine Knackis gezwungen, sich nützlich zu machen. Statt diesen durch Haft genug gestraften Menschen Freiräume für Müßiggang, für kulturelle und literarische Betätigung, für Bastelarbeiten und Flötenspiel zu gönnen, wurden sie morgens um sieben zur Arbeit herbeigepfiffen! Und die war manchmal sogar schmutzig.

Nun muss man wissen, dass man in der DDR nicht unbedingt inhaftiert sein musste, um arbeiten zu müssen. Vielleicht wurde man morgens nicht herbeigepfiffen, aber antanzen musste man schon. Allein schon wegen der allgemeinen Arbeitspflicht kann die historische Forschung unserer westdeutschen Freunde also mit Recht davon sprechen, dass die ganze DDR quasi ein Gefängnis war. Und wir alle ihre Opfer, sogar dann, wenn wir schon »früher« freiwillig ND gelesen haben.

Aber um »alle« geht’s jetzt ja gar nicht. Es geht um jene aufrechten Charaktere, die ausschließlich ihr unbändiger Drang nach Freiheit ins Gefängnis gebracht hat. Sie hatten nicht gemordet, geraubt oder vergewaltigt und mussten trotzdem arbeiten. Das allein ist schon eine Erniedrigung. Und nun kommt auch noch heraus, dass sie es für den Westen tun mussten. Aus purer Freiheitsliebe verurteilt - und dann noch Schlüpfer für Schiesser herstellen müssen! Wenn das nicht Folter ist, was dann! Besonders eklig muss das für Leute gewesen sein, die kriminalisiert wurden, weil sie einen anderen, vermutlich besseren Sozialismus haben wollten: Sie waren verdonnert, sich vom Klassenfeind ausbeuten zu lassen.

Auch hier wieder: Irgendwie hat doch die halbe DDR für den Klassenfeind produziert, und zwar ohne sich zu ekeln. Im Gegenteil: Die Werktätigen hatten ihren Spaß daran, im Westfernsehen Produkte wieder zu erkennen, die durch ihre Hände gegangen waren. Und manche waren sogar stolz darauf. Im Intershop, in dem die meisten »nur mal gucken« konnten, entdeckten sie wieder, was sie Feines geschaffen hatten. Tische, Schränke und Regale »aus schwedischer Produktion« waren uns, als wir sie später selber kaufen konnten, schon vertraut. Ossis wird bis heute nachgesagt, Meister der IKEA-Selbstmontage zu sein - sozusagen genetisch bedingt.

Onkel Walter jedenfalls wäre es nicht in den Sinn gekommen, sich als Opfer zu bezeichnen (Tante nannten ihn jedoch gern, wenn er mal wieder nicht da war, ein »Opfer der Verhältnisse«). Wenn ich mich recht erinnere, hat er, als er das letzte Mal einfuhr, sogar eine Prämie bekommen. Er war aber auch kein »Politischer«, sondern einfach kriminell.

Für die »Politischen«, die für den westdeutschen Konsum schuften mussten, sollten die westdeutschen Freunde einen Zwangsarbeiter-Euro zusätzlich zum Soli locker machen. Den jetzt entdeckten Zwangsarbeitern war es schließlich zu verdanken, dass es Billy so billig gab. Wozu eine neue Folter, wenn es dafür keine Opferrente gibt?

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