Abschied von der Billignummer
In der Callcenter-Branche wächst die Hoffnung auf einen Tarifvertrag
117 Tage - so lange mussten die Beschäftigten der Sparkassentochter S-Direkt in Halle streiken, um eine Lohnerhöhung durchzusetzen. Sie hatten keine utopischen Forderungen, sondern verlangten 8,50 Euro pro Stunde. Dass dennoch vier Monate Arbeitskampf notwendig waren, sei »ein Skandal«, sagt der SPD-Bundestagsabgeordnete Burkhard Lischka. Es zeigt aber, wie die Arbeitsbedingungen in der Callcenter-Branche sind: mies. Die Arbeitszeiten sind alles andere als familienfreundlich, Mitbestimmung gibt es kaum. Und viele »Callcenter-Agents« verdienen nicht einmal das Lebensnotwendige. Der Durchschnittslohn, sagt Sachsen-Anhalts DGB-Chef Udo Gebhardt, liegt bei 1160 Euro brutto. 30 000 Beschäftigte müssen sich ihr Gehalt vom Arbeitsamt aufstocken lassen; ein Drittel davon arbeitet Vollzeit.
Doch die Verhältnisse könnten sich ändern. Selbst viele Unternehmen der Branche, die in Deutschland über eine halbe Million Beschäftigte hat und allein in Sachsen-Anhalt für 11 400 Arbeitsplätze sorgt, hofften inzwischen auf eine festgelegte Lohnuntergrenze, sagt Manfred Stockmann, Präsident des Call Center Verbands Deutschland. Der Verein führte 2011 eine Umfrage unter 108 Unternehmen durch. Von diesen hätten sich 70 Prozent für einen Mindestlohn ausgesprochen - und ebenso viele dafür, diesen gesetzlich festzulegen.
Das überrascht nur auf den ersten Blick. Stockmann verweist zum einen auf die vielen Firmen, die zu größeren Unternehmen gehören - so genannte »Inhouse-Callcenter«. Die zahlen oft gut, leiden aber unter dem schlechten Ruf der Branche, was sich in Schwierigkeiten bei der Rekrutierung von Mitarbeitern niederschlägt. In Inseraten suchen sie deshalb nach Mitarbeitern für »Contact Center« oder »Customer Service Center«, weil im Callcenter keiner gern arbeiten will. Zum anderen gebe es auch viele eigenständige Callcenter, die unter dem ruinösen Preiskampf leiden. Binnen zehn Jahren sei der Preis für die Telefonminute von umgerechnet 2,50 Euro auf 50 Cent gesunken; teilweise, sagt Stockmann, setzten Kunden gar 25 Cent durch. Ein Mindestlohn würde da als Auffanglinie empfunden.
Allerdings fehlt für eine tarifliche Einigung ein Partner. Die Gewerkschaften der verschiedenen Branchen - von IG Metall bis ver.di - sind zwar zu Gesprächen bereit. Doch die Unternehmen sind bisher nicht in einem Arbeitgeberverband organisiert. Die Gespräche gestalteten sich »sehr zäh«, so Stockmann. Dafür gibt es zwei Gründe: Etliche Callcenter seien von tariflich gebundenen Unternehmen eigens ausgegründet worden, um die Sparte dem Tarif zu entziehen. Andere fürchteten um Aufträge, wenn bekannt werde, dass sie gut zahlen, erklärt Stockmann: »Keiner will der Erste sein.«
Allerdings wächst der Druck. Ermutigt vom Erfolg bei S-Direkt, bündeln nun Mitarbeitervertreter und Gewerkschaften ihre Kräfte; am Mittwoch gab es in Magdeburg erstmals eine Konferenz mit Betriebsräten und Vertrauensleuten. In einer »Magdeburger Erklärung« wird nachdrücklich auf einen Tarifvertrag gepocht. »Wir wollen endlich von unserer Arbeit leben können«, sagt Michael Benecke, Betriebsrat im Bosch Communication Center in Magdeburg, wo nach seinen Angaben weniger als acht Euro gezahlt werden.
Zudem ist die Branche »unter politischer Beobachtung«, weiß Manfred Stockmann: Der vom SPD-Politiker Klaus von Dohnanyi geleitete Mindestlohnausschuss der Bundesregierung verfolge die Entwicklung aufmerksam. Stockmann rechnet in naher Zukunft mit »Vorstufen« einer Tarifeinigung. Der Magdeburger SPD-Arbeitsmarktexperte Andreas Steppuhn dagegen ist sich sicher, dass es für die Branche »schon 2013 einen gesetzlichen Mindestlohn« gibt.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.