Es wird schon noch geredet werden

Hermann Kant »Die Aula«: ein Roman als Balanceakt zwischen Sympathie und Skepsis

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 4 Min.

Dies ist ein Buch über ein bereits 1962 abgeschlossenes Kapitel DDR-Geschichte: die Arbeiter- und Bauernfakultäten (ABF). Rückschau auf die Anfänge und Ansprüche eines Staates, der sich als praktischer Anwendungsfall einer großen Theorie ansah. Daher diese Bildungseuphorie, die Zukunftsgläubigkeit. Aber auch die ideologische Last des allgegenwärtigen Stalinismus. Der Ruf nach einer neuen Elite für ein neues Deutschland sollte vor allem die Minderprivilegierten erreichen, die vom Krieg am stärksten betroffene Generation: die der Flakhelfer des Jahrgangs 1928. Die Unschuldigen und doch schon Beschädigten.

»Die Aula«, 1965 erschienen, betrachtet die Euphorien des Neuanfangs mit einer Mischung aus Sympathie und Skepsis. Was bleibt davon? Der Anspruch, dass jeder, der guten Willens war, etwas lernen und damit werden konnte im Staate der DDR, auch wenn er nur acht Klassen lang eine Schule von innen gesehen hatte? Hermann Kant schreibt dieses Buch aus der Perspektive eines Alter egos, Robert Iswall. Der soll aus Anlass eben dieser Schließung der ABF eine Rede halten.

Je mehr er darüber nachdenkt, desto tiefer wird er in den Sog der Erinnerung hineingerissen. »Also bitte, dachte er ergeben: Wie kann man feststellen, ob die ABF der Wissenschaft einen Gewinn gebracht hat, wie mißt man das, wer kann es kontrollieren, wer wird es kontrollieren, kann das einer, soll man es, wird man es tun, und wen interessiert das überhaupt?« Viele Fragen, ein großes Zögern. Die ABF im Dialog der Beteiligten: »Ausgezeichnet. Sie sind also ein unbeschriebenes Blatt. Es schreibt sich besser auf unbeschriebenen Blättern.« So wird mancher aus Klarblick zum Ironiker.

Die ersten Sätze des Buches setzen einen intellektuellen Maßstab, einen, der es in sich hat. In ihm zeigt sich die ganze Nähe und Ferne des Autors Kant zum Staatswesen DDR. Nähe, weil man grundsätzlich für einen Sozialismus sein musste, natürlich, was sollte sonst die Folgerung aus dem Untergang Hitlerdeutschlands sein? Distanz, weil es nun doch schon zwei Jahrzehnte seit Kriegsende sind - und die Erfahrungen, die in dieser Zeit zu machen waren, hatten auch etwas Entillusionierendes. Das Pathos der Anfänge ist weg und Stalin, in den Worten Ulbrichts, »kein Klassiker des Marxismus mehr«. Man ging eher stillschweigend zur Tagesordnung über.

Aber auch die »Mühen der Ebene« können ganz schön ermüden. Denn diese ist das Spielfeld von Bürokraten und Funktionären. Inmitten des nunmehr verwalteten Traums wächst von ganz allein jene bissige Ironie, die Spielräume für Eigenes schafft: »Da sitzt einer über seiner Schreibmaschine, raucht zuviel, bläst Staub von den Tasten, beißt in einen Apfel und denkt an Schiller dabei, starrt auf das leere Papier und dann auf die Uhr, kratzt an dem verklebten kleinen a herum, bis es wieder sauber ist, hat schon wieder eine Zigarette in Brand gesetzt und nennt das alles Arbeit.« Was sucht dieser Mensch, der sich vor Unzufriedenheit kaum ruhig halten kann? »Er lauert auf einen Gedanken. Der Gedanke steckt den Kopf um die Ecke, zögert noch, zögert lange, aber endlich kommt er näher. Er kommt!« So ein umständlicher, ungewisser Beschwörungsakt ist also das Denken! Das klingt überhaupt nicht frisch optimistisch nach: Ich baue uns eine neue Welt, die Broschüre mit der Anleitung dafür habe ich in der Tasche. Es klingt unvermutet kompliziert.

In diesen Anfang ist schon die ganze Diagnose gelegt. Der Autor findet seine Welt am Schreibtisch, wenn er Glück hat, und meistens hat er keines. Das Buch komprimiert die Widersprüche einer Gesellschaft, die ihre Anfänge mit dem Mauerbau hinter sich gelassen hat, sich im sicheren Fahrwasser glaubt. Kant versucht sich mit der »Aula« eine Art DDR-Patriotismus zu erschreiben, aber auf selbstverständliche Weise selbstbewusst. Ein Akt der Zivilisierung auch, mitsamt Einblick in die stalinistischen Praktiken der 50er. Robert Iswall, als Beschuldigter vor einer Untersuchungskommission stehend, wagt zu fragen, was ihm vorgeworfen werde. Das eben wolle man von ihm selber hören!

Die ABF, Bildungsstätte und Kaderschmiede zugleich, weckt bei Eigensinnigen zugleich Angriffslust und Abwehrreflexe. Am Ende, das für Kant kein Ende sein soll, rast Iswall, das alles bedenkend und ohne eine abschließende Meinung, auf der Autobahn gegen einen Pfeiler: »... er wähnte, nun endlich könne er den Mund auftun, da zeigte es sich, daß ihn niemand hören wollte, und ob seines großen Zornes fuhr Robert Iswall in den Tod«. Doch dann wieder die typisch Kantsche Volte, die nur scheinbare eine Beruhigung ist: »Welch eine Schnurre, dachte er, und welche Übertreibung! Hier ist niemand tot, und hier wird auch niemand zornig, und hier wird schon noch geredet werden.« Hermann Kant: »Die Aula«, jetzt als Aufbau Taschenbuch nachaufgelegt (448 S., br., 12,99 €).

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!