Zurück in der Normalität

Zwei Jahre nach der Revolution dominiert in Tunesien Pragmatik

  • Roland Etzel, Tunis
  • Lesedauer: 8 Min.
Die Länder der arabischen Welt waren damals, am 17. Dezember 2010, vielleicht nicht das, was man wohlgeordnet nennen sollte, jedoch schien jedes einzelne Land – Ausnahme Irak – über relativ stabile Machtstrukturen zu verfügen. Die Verzweiflungstat eines jungen Tunesiers an jenem Tag löste jedoch eine Welle aus, die erst in Tunesien selbst einen Umsturz hervorrief und sich dann auch auf die Nachbarn ausbreitete. Die alten imperialen Mächte schauten dem nur kurze Zeit tatenlos zu – auch ein Grund dafür, dass die Konflikte immer blutiger wurden und ein Ende nicht abzusehen ist.

Den Gemüsehändler Tarek al-Tayeb Mohamed Bouazizi kannte wohl so gut wie niemand außerhalb seines Heimatorts Sidi Bouzid. Doch der 26-Jährige zündete sich aus Verzweiflung über ständige Drangsalierungen durch Behörden und Polizei der mitteltunesischen Kreisstadt an. Mit seinem qualvollen Tod am 4. Januar 2011 ging er in die Geschichte zumindest seines Landes als Märtyrer ein und wurde zur Ikone des Protests in seinem Land - mochten sich seine Angehörigen, aus welchen Gründen immer, auch noch so dagegen sträuben. Seine Geschwister reden noch heute von einem »Unfall«.

Das Rad der Geschichte hatte sich aber längst in Gang gesetzt und war vor allem deshalb nicht mehr aufzuhalten, weil die Story des Verzweifelten, ob nun durch Suizid oder doch Unfall gestorben, haargenau auf die Situation Tausender junger Männer und Frauen Tunesiens passte: Zwar hatte und hat kein arabisches Land Afrikas einen höheren Lebensstandard als Tunesien, dennoch mussten sich selbst gut ausgebildete junge Leute mit Gelegenheitsjobs in den Touristenhochburgen durchschlagen, waren arbeitslos oder versuchten, übers Mittelmeer ins »gelobte Land« Europa zu gelangen.

Das war zwar schon Jahre so, aber Bouazizis medienwirksamer Tod schärfte die Erinnerung an manch nicht gehaltenes Versprechen der Staatsmacht. Ebenso an die Raffgier einiger Clans, besonders jener der Familien von Präsident Zine el-Abidine Ben Ali und seiner Frau. Die Wut kochte hoch und füllte die Straßen mit Demonstranten. Dann ging alles sehr schnell. Die Präsidentensippe bekam es mit der Angst zu tun und flüchtete überstürzt mit dem, was an ihren Milliarden flüssig war, nach Saudi-Arabien, wo sie wohlgefällig aufgenommen wurde.

Für die Tunesier ist das heute schon wieder Geschichte. Religiös orientierte Parteien gewannen danach alle Wahlen. Seit einem Jahr heißt der gewählte Präsident Moncef Marzouki, ein ehemaliger Mediziner, dessen Ambitionen, den Islam zu politisieren, gemessen an den aktuellen Bestrebungen in anderen arabischen Ländern als äußerst gemäßigt angesehen werden dürfen.

Doch längst ist der Alltag wieder eingezogen in das Leben der Tunesier, von Aufbruchstimmung ist in diesen Tagen nichts zu sehen in Tunis. Fragt man Leute auf der Straße, welche Auswirkungen die Revolution für sie gehabt habe, erntet man meist einen missmutigen Blick und die Erklärung, man wolle mit Politik nichts zu tun haben. Wenn dann doch jemand redet, wird geklagt. Tenor: Die Preise seien gestiegen, die Touristen blieben weg, die neue Regierung sei nicht besser als die alte, im Gegenteil.

Manches davon ist real, manches allerhöchstens Bauchgefühl, zum Beispiel das mit den Preisen. Die Lebensmittel würden teurer, weil »die Libyer alles wegkaufen«, ist häufig zu hören. Zur Bekräftigung dessen wird jedem vorbeifahrenden libyschen LKW, so er am Kennzeichen als solcher erkannt wird, ein kräftiger Fluch hinterhergeschickt. Tatsächlich kann von einem verringerten Warenangebot auf den Märkten kaum die Rede sein. Außerdem haben sich Libyer schon immer gern »im tunesischen Vorgarten« versorgt und dafür auch gut bezahlt.

Auch die Klage über weniger Touristen ist nur zum Teil berechtigt. Ohne Zweifel sind im Revolutionsjahr 2011 deutlich weniger Ausländer nach Tunesien gekommen, um dort ihr Urlaubsgeld auszugeben. Doch die Strandhochburgen der Ostküste zwischen Nabeul, Hammamet und Djerba quellen wieder über von Touristen, vor allem deutschen. Längst ist dieser Teil der Mittelmeerküste wieder Ziel jener Liebhaber mediterraner Strände, denen zum Beispiel die Costa Brava zu teuer oder aus anderen Gründen unangenehm ist. Eines steht freilich fest: Arbeitsplätze, vor allem qualifizierte für junge Leute, gibt es nicht mehr als zu Ben Alis Zeiten. Und so sieht man in den Zentren der Städte tagsüber auch weiter Trauben von Jugendlichen, die wenig Sinnvolles mit sich anzufangen wissen. Mit schlagartig besseren Perspektiven für sie war aber realistischerweise auch nicht zu rechnen. Revolutionen bringen nicht automatisch Investitionen, auch nicht in Tunesien.

Gibt es eine Islamisierung im Land? Auffällig ist sie jedenfalls nicht. Das mag zum Teil daran liegen, dass zwar auch in Tunesien Muslimbrüder ideologische Vordenker der herrschenden Parteien sind; aber verglichen mit den rabiaten Varianten der Bruderschaften beispielsweise in Syrien oder Ägypten sind sie geradezu milde wirkende Betgruppen.

Zwar weiß jeder tunesische Händler zu erzählen, dass demnächst die Wiedereinführung des islamischen Wochenkalenders mit dem Freitag als Wochenfeiertag drohe, aber die Regierung dementiert das - bisher. Religiöse Eiferer scheinen in den Ministerien von Tunis nicht am Werke zu sein. Geben muss es sie im Lande dennoch. Wie sonst kam es im September zum handstreichartigen Sturm auf Washingtoner Einrichtungen nach einem den Islam schmähenden Film in den USA? Und die Islamisten versuchen, Positionen zu gewinnen - vor allem in den TV-Sendern und anderen Medien, den Schulen, Kinos und öffentlichen Veranstaltungen.

Bisher hat sich »Ennahda« (Das Wiedererwachen), die stärkste politische Partei Tunesiens, jedoch weitgehend an den bei Regierungsantritt proklamierten pragmatischen Stil und behutsamen Wandel gehalten. Was einschließt, dass Gewerkschafter und Regierungsanhänger, wie dieser Tage in Tunis, bei sozialen Protestaktionen auch hart aufeinandertreffen können. Für die Touristen brachte es die Regierung auf diesen Nenner: Den Wunsch nach Biergärten oder knapper Kleidung im Urlaub müsse sich in Tunesien auch künftig kein Gast versagen.

Ägypten

Machtfrage 
ungeklärt: In Ägypten stehen Islamisten gegen Liberale

Nichts könnte die Ergebnisoffenheit der Umwälzungen in Ägypten besser illustrieren als die am Samstag begonnene Volksabstimmung zur Verfassung. Nur kurze Zeit nach Ben Ali in Tunesien, am 11. Februar 2011, trat Hosni Mubarak nach fast 30-jähriger Präsidentschaft zurück – oder besser, wurde dazu gezwungen von jenem Generalsklub, aus dem er hervorgegangen war. Er opferte ihn nun, um nirgendwo sonst in dieser Dimension zu findende Privilegien der Militärführung, z. B. die Beherrschung ganzer Industriezweige, zu bewahren. Auch die bei den Wahlen siegreichen Muslimbrüder tasteten das nicht an. Sie wollen vorerst nur die politische Macht und die Gesellschaft nach ihrem Bilde verändern, was zu erbitterten Auseinandersetzungen mit Liberalen und Linken in den Städten führt.

Libyen

NATO nutzte ihre Chance: In Libyen Regime-Wechsel durch Bombenkrieg

Auch im Lande von Muammar al-Gaddafi nutzten im März 2011 Unzufriedene vor allem in der Stadt Bengasi die revolutionäre Stimmung in den Nachbarländern Tunesien und Ägypten, um gegen den bei Protesten stets wenig zimperlichen Revolutionsführer aufzubegehren. Die darauf einsetzenden üblichen Gaddafi-Tiraden, er werde »dieses Pack vernichten wie räudige Hunde« – tatsächlich wurden Dutzende Demonstranten getötet – wurden in der NATO dankbar aufgenommen und als unmittelbar drohender Völkermord interpretiert. Der UN-Sicherheitsrat verhängte eine Flugverbotszone, die die NATO nutzte, um mittels eines monatelangen Luftkrieges Gaddafis Gegnern den Sieg zu schenken und den Westen dafür im ölreichen Land wieder Fuß fassen zu lassen. Am 20. Oktober 2011 wurde Gaddafi getötet.

Syrien

Bürgerkrieg auf Höhepunkt: Regionaler Machtkampf auf dem Rücken der Syrer

Es begann mit Terror von Geheimdienst und Polizei gegen Jugendliche und eine darauf folgende Demonstration in der Provinzhauptstadt Daraa. Daraus entwickelte sich – befeuert von der Tatsache, dass die Staatschefs in Tunesien und Ägypten mittels Dauerdemonstrationen recht schnell gestürzt worden waren – ein Aufbegehren auch in anderen Städten des Landes gegen die Alleinherrschaft von Baschar al-Assad, seiner Familie und der religiösen Minderheit der Alawiten, zu denen sie gehört. Inzwischen ist der Bürgerkrieg längst zu einer internationalisierten Angelegenheit geworden. Es geht heute um die Dominanz in der Region. Die – sunnitischen – arabischen Monarchen wollen den mit dem – schiitischen – Iran verbündeten Assad um jeden Preis stürzen. Der Krieg strebt einer blutigen Entscheidung zu.

Jemen

Sturz nach zähem Ringen: In Jemen opferte der Westen einen Verbündeten

Ali Abdullah Salih, Langzeitherrscher ohne Wählerlegitimation wie Assad, Gaddafi und Mubarak, hatte im ärmsten und am stärksten von Stammesstrukturen geprägten arabischen Land in keinem Jahr seiner seit 1978 währenden Herrschaft Frieden. Alle Erhebungen wurden niedergeschlagen mit Hilfe vor allem Saudi-Arabiens unter freundlicher Nichtzurkenntnisnahme des Westens. Auch 2011 brandete Widerstand gegen Salih von vielen Seiten auf: von rivalisierenden Clans, den städtische Intellektuellen, Guerilla-Gruppen im Norden und Süden. Angesichts des allgemeinen Zustimmungstaumels zum »Arabischen Frühling« konnte der getreue Salih nun nicht mehr protegiert werden und musste am 23. November 2011 seinen Abgang unterschreiben – für ein Exil in den USA.

Bahrain

Vom Nachbarn niedergewalzt: Keine Chance für den 
Frühling in Bahrain

Auch im kleinsten arabischen Staat, der 750 Quadratkilometer großen Insel Bahrain, etwa so groß wie Hamburg, witterte die Opposition im Jahr des Arabischen Frühlings eine Chance, endlich mit ihren Forderungen vor der Welt Beachtung zu finden. Hier herrscht die – sunnitische – Chalifa-Sippe über die unterprivilegierte schiitische Bevölkerungsmehrheit. Zugleich war der Inselstaat die einzige Monarchie, in der im Frühjahr 2011 systemgefährdende Unruhen ausbrachen. Vor allem den eigenen Machtverlust fürchtend, gingen die im Golfkooperationsrat verbündeten Könige entsprechend rücksichtslos zu Werke; allen voran der große Nachbar Saudi-Arabien, der 1000 Soldaten mit Panzerwagen und 500 Polizisten über die beide Staaten verbindende Brücke einrücken ließ. Die Proteste wurden niedergeschlagen.

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