»Kriegerische Stimmung unter Lichtergirlanden«
Heimelige, kuschelige Weihnachtszeit, das Fest der Liebe - von wegen, meint Dietmar Bittrich
nd: Weihnachten, das Fest der Liebe - oder?
Bittrich: Ja, alle lieben einander, wenn auch auf schwer erkennbare Weise. Stresslevel, Streithäufigkeit und Trennungen (meist kurzfristige) erreichen zu Weihnachten ihren Jahreshöhepunkt. Das liegt an der bedrückenden Dunkelheit, an dem Termindruck, der vom Jahresende verschärft wird, an der Geschenkenot, am Dress Code und am Zwang, mit Verwandten zusammen zu sein, die man gewöhnlich auf Distanz hält. Wer dann noch harmonisch tun soll, ist der Klapsmühle ganz nahe.
Zur Liebe fällt Ihnen gar nichts ein?
Äh - doch. Nur wer entspannt ist, kann lieben. Rund um Weihnachten wird die Anspannung, englisch Stress, auf sonst nie gekannte Höhen getrieben. In dieser Anspannung erscheint die Botschaft von der Liebe wie etwas Absurdes und Fernes, zumal sie ja suggeriert: Wenn du das nicht spürst, dann stimmt was nicht mit dir. Aber es stimmt alles. Manche Leute kann man nur lieben, wenn sie sehr weit weg sind. Zu Weihnachten sitzen sie leider im Wohnzimmer.
Und darum hassen Sie Weihnachten?
Hassen nur im Sinne von »Da krieg ich die Hasskappe!« Wer zu Weihnachten keinen Wutausbruch kriegt und am liebsten alles zum Fenster rauswerfen will, der fühlt einfach nicht tief genug oder hat keine Kraft mehr. Jedem sensiblen Menschen geht der Feierzwang auf die Nerven. Stille und Frieden sind um Weihnachten herum am schwierigsten zu erfahren. Unter den städtischen Lichtergirlanden herrscht kriegerische Stimmung. Jeder empfindet Abscheu, bis er wieder allein sein darf in seinen vier Wänden. Mein Weihnachtshasserbuch spricht allen aus dem Herzen, die Weihnachten wirklich lieben.
In aktuellen Meldungen ist von vergifteten Weihnachtskalendern zu lesen …
Oh? Tatsächlich! Dann ist also der Kalender, den ich meiner Erbtante geschenkt habe, entdeckt worden? Verdammt. Aber wenn Sie die Meldungen über Rückstände von Mineralöl in bestimmten Schokoladenkalendern meinen, weist das auf ein Dilemma unseres Ökofimmels hin: Die Kalender bekommen ein Öko-Siegel, weil sie aus Altpapier hergestellt sind. Und ausgerechnet aus diesem Altpapier sickern Mineralölreste aus der Druckerfarbe in die Schokolade. Es ist nur ein kleines Beispiel, ein weihnachtliches, wo unser Streben nach ökologischer Reinheit das genaue Gegenteil zeitigt.
Was verbirgt sich hinter Ihrem ablehnenden Blick auf das Weihnachtsfest. Kapitalismus-, Kultur-, oder Religionskritik?
Pures Leiden. Es gibt eine intellektuelle Form von Kritik, die an Wertmaßstäben misst. Und eine eher emotionale Kritik, die aus dem Leiden entsteht. Zur Weihnachtszeit leiden alle. Dies ist das Fest, bei dem wir am deutlichsten spüren: Da stimmt was nicht. Das ist eine intuitive Kritik des Herzens. Die Kritik des Verstandes kommt danach. Sie sucht Ursachen. Etwas hilflos greift sie zu Formeln wie: Alles ist dem Kommerz unterworfen. Oder: Wenn es eine sogenannte frohe Botschaft gegeben hat, eine Verheißung von Liebe und Frieden, wo sind die eigentlich? Weihnachten wird schmerzlich offenbar, dass die Geschichte, die von den Kirchen seit zweitausend Jahren erzählt wird, nicht stimmt.
Wie wurden Sie zum Weihnachtshasser, ist etwa Ihr Urgroßvater schuld?
Ja, es liegt ein Weihnachtsfluch auf der Familie. Mein Urgroßvater kam vor über hundert Jahren auf die verhängnisvolle Idee, einen Weihnachtsmann-Verleih-Service zu gründen. Es war der erste Weihnachtsmann-Service in Deutschland und vielleicht in Europa. Mein Urgroßvater gehörte damals zu einer ärmlichen Studentenverbindung. Sechs Kommilitonen und er boten erstmals im Jahre 1905 per Annonce an, bei Familienfeiern in Verkleidung Bescherungen vorzunehmen. Sie kleideten sich nach dem Vorbild des Nikolaus im Struwwelpeter, also mit rotem Mantel und Seilgürtel und roter Bischofsmütze, alles selbstgenäht. Im ersten Jahr brachte das nur so viel ein, wie diese Kostüme gekostet hatten, aber im zweiten Jahr berichtete das Berliner Tageblatt darüber. Und von da an boomte die Agentur.
Zusammengefasst: Ur-Opa und Ur-Enkel Dietmar machen beide Kohle mit Weihnachten!
Hmm, so habe ich es noch nicht betrachtet. Aber Sie haben Recht. Der Unterschied ist wohl: Mein Urgroßvater verdiente Geld mit dem Wunsch der Familien nach einer stimmungsvollen Feier. Meinen Erlös gäbe es nicht ohne den Wunsch gestresster Familienmitglieder, diesem Feierzwang zu entgehen.
In Ihren Büchern geben Sie boshafte Tipps für die Feier. Eine Kostprobe bitte!
Ich selbst behelfe mir mit Fotografieren. Das ist der einfachste Weg, auf Distanz zu gehen. Den Verwandten erscheine ich engagiert, aktiv und interessiert. In Wahrheit halte ich einfach eine Kamera zwischen sie und mich. Und wenn ich gerade nicht fotografiere, kann ich in Ruhe die Bilder durchsehen und schon mal bearbeiten. Wenn ich mit dem Handy fotografiere, kann ich sogar unbemerkt im Web surfen. Total dabei und engagiert wirken, in Wirklichkeit aber nicht teilnehmen: Das ist der Schlüssel zum Glück. Das war schon in der Schule so.
Schon mal mit Christbaumkugeln beworfen worden?
Ja, das liegt am Schneemangel. Zur Austragung familieninterner Konflikte müssen wir immer mehr zu preisgünstigen Kugeln, Zapfen und Engeln aus chinesischer Produktion greifen.
»Schon wieder nah'n die Weihnachtstage! Gott hilf mir, dass ich sie ertrage«, dichtete Theodor Storm. Ihr Lieblingszitat?
Nein, denn Gott kann nicht helfen. Mein Lieblingszitat ist das von Hitchcock: »Wenn ich beim Festschmaus in die Runde sehe, fallen mir die besten Morde ein.« Das Zitat zeigt, dass tiefes Leiden zu frecher Kreativität inspirieren kann.
Lassen Sie uns mal über etwas Positives reden: In der Weihnachtszeit melden sich alte Freunde nach langer Zeit wieder. Das ist doch toll?
Ja, es gibt einem die Möglichkeit, von zu Hause auszureißen, genau wie damals.
Ohne Weihnachten gäbe es die beliebten Tage »zwischen den Jahren« nicht!
Man bräuchte sie auch nicht. Die Tage zwischen den Jahren dienen nur der Regeneration vom Weihnachtsstress, der Behandlung von Verdauungsbeschwerden, der Entsorgung des Verpackungsmülls, dem Dankschreiben und dem Umtauschen missliebiger Geschenke. Diese Tage waren erholsam, als das Fest noch nicht so gehypt wurde. Inzwischen sind sie eine Verlängerung des Weihnachtsstresses bis Silvester. Dort trinkt man sich in die Vergessenheit. Und im Januar fragt man sich ernüchtert, wozu das alles gut war.
Braucht der Mensch nicht Rituale, die Weihnachten uns in Fülle liefert?
Rituale sind ein veredeltes Wort für Gewohnheiten. Ob wir sie brauchen oder nicht, wir haben sie nun mal. Schon Babys haben Rituale. Selbst Tiere. Weihnachten gehört bei den Tieren allerdings nicht dazu. Sie benötigen keinen Segen von oben, um zu leben. Und nach meinem Eindruck benötigen wir den auch nicht.
Und was ist mit Kontemplation, Muße, Geschenke auspacken, lecker Alkohol trinken?
Alles gut und deshalb das ganze Jahr über praktiziert. Wir schenken einander irgendwann im Jahr etwas, wenn wir etwas Schönes oder Passendes sehen. Wir ziehen uns zur Muße und Kontemplation zurück, wann immer wir das Bedürfnis haben. Weihnachten haben wir zwar das Bedürfnis, aber keine Gelegenheit. Und natürlich trinken wir Alkohol das ganze Jahr über, und garantiert besseren als am Glühweinstand. Was das Jahr über maßvoll und qualitätsvoll geschieht, soll Weihnachten geballt stattfinden. Das gehört zu den Gründen für die Zunahme weihnachtlicher Depressionen.
Als Weihnachtshasser schon mal Ärger mit der Kirche bekommen, etwa einen Rüffel vom Pastor?
Nein, nur Zustimmung. Mütterlicherseits stamme ich aus einer Pastorenfamilie. Ich weiß, wie sehr die Pfarrer Weihnachten unter Stress stehen und wie froh sie sind, wenn es endlich vorüber ist. Einer meiner Cousins ist Pfarrer auf dem Land und muss Heiligabend fünf Gemeinden abfertigen. Das ist wie Prostitution, nur schlechter bezahlt, weil nicht so lustvoll.
Wie feiern Sie denn?
Wie jeder Mann unterwerfe ich mich Weihnachten den Wünschen und Befehlen meiner Frau. Weihnachten ist vorrangig ein weibliches Fest. Die Frau knüpft hohe Erwartungen daran. Wärme, Gemeinsamkeit, Gefühl, Kuschelstimmung und engelsreine Harmonie stehen auf ihrem inneren Wunschzettel. Der Mann versucht, sich mit ironischen Bemerkungen zu wehren. Aber wenn er sich abschätzig über den Rummel äußert, sitzt er im Fettnapf. Seine Frau ist ja selbst Teil des Rummels, kauft, rafft, rennt, bäckt, schmückt, putzt, bastelt, bretzelt, brutzelt, ruiniert Portemonnaie, Frisur und Nerven. Es ist besser, wenn er sie unkommentiert gewähren lässt und untertänigst assistiert. So feiert er - so feiere ich - Weihnachten. Als Untertan.
Hass, als minus und vergebens, wird vom Leben abgeschrieben. Positiv im Buch des Lebens steht verzeichnet nur die Liebe. Ob ein Minus oder Plus uns verblieben, zeigt der Schluss.
Wilhelm Busch
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