Unterwegs auf die kriminelle Tour

Eine preisgekrönte Zeitreise stellt Berlin als Hauptstadt des Verbrechens vor

  • Ekkehart Eichler
  • Lesedauer: 5 Min.

»Carl Großmann gelangte zu grauenhaftem Ruhm als Bestie vom Schlesischen Bahnhof und größter Massenmörder der deutschen Geschichte.« Alexander Vogel macht eine wirkungsvolle Pause. Auf dem Monitor erscheint die grobkörnige Aufnahme eines hageren Mannes mit Filzhut. Der Bus hält in der Nähe vom Berliner Ostbahnhof, zu Zeiten dieser Mordsstory wegen hoher Kriminalitätsrate auch »Chicago Berlins« genannt.

Was sich dort allerdings zwischen 1918 und 1921 abspielt, versetzt selbst diese verruchte Gegend in pures Entsetzen: Rund um den Schlesischen Bahnhof werden 23 zerstückelte Frauenleichen gefunden. Carl Großmann wird auf frischer Tat ertappt und erhängt sich kurz vor der Hauptverhandlung in der Zelle. Wie später ermittelt wird, gehen vermutlich etwa 100 Morde an Frauen und Kindern auf sein Konto.

Szenenwechsel: Berlin Moabit 1928. In der Landesfinanzkasse lagern jeden Monat neun Millionen Reichsmark, die laut Versailler Vertrag als Reparation an Frankreich zu zahlen sind. Verlockung genug für die »Meisterdiebe« und »Gentleman-Ganoven« Franz und Erich Sass. Diese haben sich auf das innovative Öffnen von Geldschränken spezialisiert und gehen dabei mit ausgefeilter Planung und enormer Präzision vor. Plastisch wird das in einer Szene aus dem Film »Sass«, in dem Ben Becker und Jürgen Vogel als kriminelles Brüderpaar für ein paar Minuten Hochspannung sorgen.

Bequem im Bus sitzen und kriminelle Abgründe hautnah kennenlernen - so funktioniert die Stadtrundfahrt »Hauptstadt des Verbrechens«. Die Tour folgt den Spuren spektakulärer Mordfälle, dreister Raubzüge und grausamer Hinrichtungen. Sie stellt die gewieftesten Tresorknacker vor und den sympathischsten Erpresser, die ausgebufftesten Ganoven und den cleversten Ermittler. »Wir schauen also nicht nur auf Tatorte und Täter, sondern auch auf die Jäger und ihre Ermittlungsmethoden«, erklärt Alexander Vogel, der diese Zeitreise entwickelt hat und sie auch live moderiert.

Prominentestes Beispiel: Kriminalkommissar Ernst Gennat. Im Polizeipräsidium, nach dem Schloss einst Berlins zweitgrößtes Gebäude, residierte der Buddha vom Alexanderplatz. Legendär wegen seiner drei Zentner Lebendgewicht, vor allem aber, weil der Kriminalist aus Leidenschaft Angst und Schrecken unter Gangstern und Ganoven verbreitete.

Gennats Aufklärungsrate lag bei über 90 Prozent. Er revolutionierte die Polizeiarbeit, indem er etwa das »Mordauto« erfand - ein komplett und hochmodern ausgestattetes Fahrzeug zur Spurensicherung am Tatort. Zu Weltruhm gelangte die von ihm geschaffene »Zentralkartei für Mordsachen«. Und er fahndete 1938 zum ersten Mal in der Kriminalgeschichte per Fernsehen nach einem Mörder - ganze zwei Jahre nach der Weltpremiere des neuen Mediums während der Olympischen Spiele. Auch dieser Mann fand sich im Spielfilm wieder. Fritz Lang setzte ihm ein Denkmal als Kommissar Karl Lohmann im »Testament des Dr. Mabuse«; davon gibt es ebenfalls einen Ausschnitt im Bus.

An jedem realen Schauplatz oder Tatort sorgt auf diese Weise visuelle Unterfütterung in Form von historischen Filmaufnahmen, Fotos, Dokumenten und Spielfilmsequenzen für ein Quantum an Schauder, Grusel und Aha-Effekten. Ein ungewöhnliches Konzept, für das der Veranstalter »VideoBustour« zuletzt im September 2012 ausgezeichnet wurde - als ausgewählter Ort der Initiative »Deutschland - Land der Ideen«.

Wer zum Beispiel weiß schon, dass vor der Marienkirche unweit vom Alexanderplatz ein steinernes Sühnekreuz steht, zur Buße für den ersten Lynchmord in der Stadt im Jahre 1325. Dass Michael Kohlhaas anno 1540 auf der einstigen Hinrichtungsstätte am heutigen Strausberger Platz aufs Rad geflochten wurde. Dass Napoleon die Quadriga vom Brandenburger Tor klaute und auf Kaiser Wilhelm I. zwei Attentate unter den Linden verübt wurden.

Wer kennt schon das alte Scheunenviertel mit seinen Hehlerkaschemmen, in denen abends brandheiß vertickt wurde, was die Jungs tagsüber im gutbürgerlichen Charlottenburg zusammengeklaut hatten. Wo im berüchtigten Schiebercafé Dalles selbst das Essbesteck angekettet werden musste, um ungewollte Mitnahme zu unterbinden. Wo in Halbweltlokalen wie der »Mulackritze« Marlene Dietrich mit Muskel-Adolf schäkerte, ebenfalls ein Urgestein der kriminellen Geschichte Berlins, über den Vogel eine Menge zu sagen weiß.

Als grusligen Höhepunkt hat er einen besonderen »Leckerbissen« in petto: Exklusiv dürfen wir mit Zeitreisen das einstige polizeiliche Leichenschauhaus in der Hannoverschen Straße betreten. In dem Gerichtsmedizinischen Institut, das Ende des 19. Jahrhunderts beispiellos in Deutschland und der Welt war, wurden bis 1931 unbekannte Leichen zur Identifizierung ausgestellt. Eine unglaubliche Attraktion für Einheimische und Touristen, die - man glaubt es kaum - sogar im Baedeker erwähnt wurde.

»Leichen gucken war seinerzeit sozusagen Volkssport und gewissermaßen eine Art Freak-Show.« Hier, wo unter anderen Otto Lilienthal, Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, Horst Wessel, die Toten vom 17. Juni und Maueropfer Peter Fechter im Keller lagen, drückten sich die Leute »wie im Raubtierpavillon des Zoologischen Gartens« die Nasen platt - so jedenfalls beschrieb Egon Erwin Kisch den Raum mit seinen sieben Abteilungen, in denen jeweils zwei Leichen gut gekühlt zur Schau gestellt wurden.

Fazit nach zweieinhalb Stunden Zeitreise: Diverse Berliner Kriminalgeschichten und ihre Protagonisten haben sich wohl für immer ins Gedächtnis eingegraben. Ein Verdienst des Moderators und seiner vielen dokumentarischen und medialen Zeit- und Milieuzeugnisse. Denn mangels historischer Bausubstanz kann man so sehr viel besser nachvollziehen, wie es einst ausgesehen hat in Berlin, der Hauptstadt des Verbrechens.

  • Infos: Die VideoBustour »Hauptstadt des Verbrechens« gibt es jeden ersten Samstag im Monat. Start 13.30 Uhr; Treffpunkt: Unter den Linden 40; Dauer: 2,5 Stunden; www.videobustour.de, Preis: 19,50 Euro/16,50 Euro ermäßigt.
  • Info und Buchung: Tel.: (030) 44 02 44 50 oder kontakt@videobustour.de
  • Weitere Zeitreisen in Berlin: »Zeitreise durch Berlin«: jeden Samstag 11 Uhr »Filmstadt Berlin - Das rollende Kino«: jeden zweiten und vierten Samstag 13.30 Uhr
  • Zeitreisen gibt es darüber hinaus auch in Hamburg, München, Leipzig, Dresden und Wien, www.zeit-reisen.de
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