Außer Atem

Den Berliner Tanztagen in den Sophiensælen ging zu Beginn die Puste aus

  • Volkmar Draeger
  • Lesedauer: 4 Min.

Mut hat er ja, dieser Peter Pleyer. Die von ihm verantworteten Tanztage in den Sophiensælen »stricken« an der Tanzgeschichte von morgen, verkündet er lauthals im Programmheft. Das sitzt. Zehn Tage lange präsentiert er mit diesem Anspruch knapp zehn Produktionen vornehmlich der Berliner Szene, ergänzt durch ein Coaching Projekt, einen Abend junger Choreographinnen aus Polen und Angebote im Rahmenprogramm. Eröffnet wurde die diesjährige Ausgabe des traditionsreichen Festivals von einem weiblich besetzten Doppelabend im Festsaal. Die dänische Tänzerin, Choreographin und Singer-Songwriterin Christine Borch, studiert in Bildender Kunst und Choreographie, greift für ihr Trio »One Revolution, Respiration« auf die guten Erfahrungen zurück, die sie beim Solotanz-Wettbewerb der euro-scene Leipzig gemacht hat. Dort gewann sie 2011 den 1. Preis mit hechelndem Tanz mit einem Wollgespinst um ihren Körper. Auch diesmal geht es wieder ums Atmen als einer elementaren Lebensentäußerung, nun jedoch multipliziert.

Den runden Tisch, Markenzeichen des Leipziger Wettbewerbs, hat sie gleich beibehalten, platziert darauf im Stern liegend drei Halbnackte in fransigen Kleidchen. Zischlaute führen zu stark vibrierender Bauchmuskulatur, Körper werfen sich epileptisch, individuelle Atemfrequenz organisiert sich zum Dreier-Rhythmus. Immer wieder streben die Leiber auf, stürzen, bis die Trance sie erschöpft entlässt. Luft staut sich in der Lunge, Energie stockt, die Frauen husten und prusten, kicksen schrill, pressen und drücken das Animalische im Menschen heraus. So mögen einst Delphis Pythia und die Germanin Veleda unter dem Einfluss von Drogen geweissagt haben, vollziehen noch heute Schamanen ihre Rituale. Selig gurrend und knarrend wälzen sich dann die drei Medien; dem Exzess um menschliche Grenzzustände, um das Außer-sich-Sein folgen entspannte Taumelstürze, schließlich völlige Erstarrung, aus der sich die Tänzerinnen gelöst unters Publikum begeben. Der Ort ihrer Ausbrüche bleibt leer.

Mit gigantischem Ehrgeiz geht Antje Velsinger zu Werke. Ihr Duo »And the boat goes backwards« beruft sich auf Einsteins Raum-Zeit-Theorie und den Umstand, dass Ereignisse gleichzeitig und unabhängig voneinander existieren können. Bei ihr sind das die Körper der beiden Tänzerinnen, die anfangs langgestreckt liegen und einzeln, vierfüßig kriechend, in den ganz leeren Bühnenraum hinein aufbrechen, bis die Wand ein Ende setzt. Dann bleibt nur noch die Minimalbewegung einer gedrehten Hand. Im Lauf des Duos vertauschen sie ihre Bewegungsmotive, fügen sich der Erkundung des Raums Texte ein wie »Leute, die vom Bordstein fallen«, ohne dass damit gearbeitet würde. Im zweiten Teil des viel zu langen Stücks rennen die beiden, befeuert von lauten Rauschkaskaden, linear gegen die Rückwand an, werden zurückgeschleudert, lassen Scheinwerfer so provokant wie ungeschickt die Zuschauer blenden und enden gegensinnig sitzend - mit Winkhand.

Die Tanzgeschichte von morgen werden diese beiden Beiträge wohl nicht einläuten; kaum der von heute halten sie stand. Denn neu ist daran gar nichts. Mit dem menschlichen Atem haben schon die Altvorderen des modernen Tanzes gearbeitet, will man nicht noch weiter zurückdenken; und Versuche im und mit dem Raum sind alt wie der Tanz selbst. Problematischer noch fiel jenes Coaching-Projekt aus, das zwei Choreographen, einem Trio zur Teststrecke wurde. Alle drei Produktionen punkten mit einer interessanten Grundidee, über die Vereinzelung und Kontaktarmut Jugendlicher, die Ankunft aus südamerikanischer Wärme im winterkalten Europa, die witzigen Versuche, verbale Vorgaben im konzepttänzerischen Wettstreit auszudeuten. Alle aber kranken an handwerklichen Mängeln wie Stilkauderwelsch, fehlender Raumnutzung, Fragen der Dramaturgie und können daher ihre gute Vorlage nicht sinnfällig und verständlich umsetzen. Und alle flüchten sich deshalb in geschwätzige Überlänge. Welchen Beitrag hier Pleyer als Coach des mehrwöchigen Projekts geleistet hat, muss er sich fragen lassen.

Was erwartet den geneigten Besucher der Tanztage noch? Schräg könnte es bei den Witchtits werden, wenn die zwei Tänzerinnen auf die Suche nach dem Paradies gehen. Als derzeit »heißeste One-Woman-Show der deutschen Choreographie-Szene« annonciert ist »How do you imagine the devil?« der Amerikanerin Dani Brown als Spiel mit Realität und Fiktion. In »The Victory Day« imaginiert Willy Prager performativ eine Revolution und untersucht, wie Revolutionen heute zu kommerziellen Produkten werden. Mit der Wirkung von Prothesen befasst sich Anna Posch; wie verschieden sich Geschichten in der Einzelwahrnehmung spiegeln, fragt Irene Schröder.

Bis 14.1., Sophiensæle, Sophienstr. 18, Mitte, Kartentelefon 283 52 66, www.tanztage.de

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