Kleiner Grenzverkehr

Uwe Kalbe ist Ressortleiter Inland im »nd«. Er kommentiert den Elyssee-Vertrag und die deutsch-französische Freundschaft

  • Lesedauer: 3 Min.
Kolumne – Kleiner Grenzverkehr

Die deutsch-französische Freundschaft - keiner kann sich in diesen Tagen ihrer Wucht erwehren. Den Höhepunkt fand sie gestern mit der symbolischen Kohabitation beider Parlamente in Berlin. Kleiner Grenzverkehr in ganz großer Runde. Seit Konrad Adenauer vor 50 Jahren von Charles de Gaulle mit einer ungelenken Umarmung überrumpelt wurde, scheint gegen die bilaterale Zuneigung kein Kraut mehr gewachsen.

Doch wie schon vor 50 Jahren, als die beiden Staatsmänner aus ganz unterschiedlichen Beweggründen ihre Unterschrift unter den Élysée-Vertrag setzten, sind Frankreich und Deutschland auch heute zwei Länder mit sehr unterschiedlichen Kulturen und politischen Vorstellungen. Man hat sich damit abgefunden, dass sich die eigenen Interessen besser mit dem anderen als gegen ihn durchsetzen lassen. Wenn eines Tages die Differenzen diese gemeinsame Erkenntnis wieder überwiegen sollten, wäre es vorbei mit der gegenseitigen Freundlichkeit.

So etwas kann sehr schnell gehen, und wer das nicht glaubt, hat nie die fromme Ernsthaftigkeit nachvollzogen, mit der im anderen, dem realsozialistischen Teil Deutschlands über ebenfalls fast fünf Jahrzehnte hinweg die deutsch-sowjetische Freundschaft zelebriert wurde. Es brauchte wenige Monate, um Fundamente wie Aufbauten der gemeinsamen Tribünen in den Schlund der Geschichte zu spülen.

Viel tiefer noch, weil für jedermann erreichbar, schien das direkte Nachbarland im Osten die Erkenntnis zu prägen, dass nach dem Zweiten Weltkrieg eine neue Zeit angebrochen war. Die über Jahrhunderte gepflegte Erbfeindschaft zwischen Deutschland und Polen heißt im üblichen Sprachgebrauch nur deshalb nicht so, weil Polen dank der konzertierten Annexionen Deutschlands (Preußen), Russlands und Österreichs über mehrere Hundert Jahre gar nicht existierte. Der kleine (pass- und visafreie) Grenzverkehr, den die DDR und Polen im Jahr 1971 einrichteten, war zwar nicht der Dimension nach, aber emotional durchaus vergleichbar mit dem Fall der Schlagbäume in der EU nach dem Schengen-Abkommen.

Als die DDR und Polen im Jahr 1950 vertraglich die Oder-Neiße- mit dem Zusatz Friedensgrenze versahen, war dies eine dem Élysée-Vertrag vergleichbare und 13 Jahre vor diesem verkündete Botschaft an die Welt. Die Bundesrepublik hat sich diese nie in gleicher Konsequenz zu eigen gemacht. Sie brauchte für eine halbwegs versöhnliche Entscheidung überdies 20 Jahre länger. Der Kniefall von Willy Brandt an jenem 7. Dezember 1970 in Warschau hat die historische Verspätung allerdings öffentlichkeitswirksam wettgemacht. Und so ist es geblieben. Bis heute gilt die rührende Geste des Kanzlers und SPD-Vorsitzenden als das Höchstmaß der erreichbaren mentalen Verständigung zwischen beiden Völkern. Und sie wird begleitet von den nie verstummten Begehrlichkeiten, die eine Erika Steinbach namens der vermeintlich zu Unrecht geprellten ehemaligen Land- und Immobilienbesitzer in Posen oder Westpreußen am Leben erhält. Doch nicht die Empörung darüber, sondern Nachrichten über die Beutezüge von Diebesbanden aus Polen tupfen weitere Sprengsel auf das Bild offener Rechnungen.

Dass der Élysée-Vertrag erst 50 Jahre alt ist, zeigt, wie knapp Deutschland, Frankreich und mit ihnen die sogenannte westliche Zivilisation der zuvor gepflegten Erbfeindschaft entronnen sind. Eine Erkenntnis, die offenbar verbindet. Das ist schon ein Aufatmen wert. Ohne vergleichbare Hinwendung gen Osten bleibt die grenzüberschreitende Empathie allerdings mickrig.

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