Vermächtnisse und Versäumnisse

Der 30. Januar und das Selbstverständnis beider deutscher Staaten

  • Günter Benser
  • Lesedauer: 4 Min.

Als 1949 die beiden deutschen Staaten ins Leben traten, waren die schlimmen Folgen der am 30. Januar 1933 installierten faschistischen Diktatur noch allgegenwärtig. So durfte erwartet werden, dass in ihren ersten Regierungserklärungen diesem jüngsten Kapitel deutscher Geschichte für die eigene Standortbestimmung gebührende Aufmerksamkeit zuteil würde. Dem sind die deutschen Regierungschefs auf sehr unterschiedliche Art nachgekommen.

Konrad Adenauers am 20. September 1949 abgegebene Regierungserklärung umging jegliche Verortung der Bundesrepublik in der Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und mithin die Frage nach deutscher Schuld und Verantwortung für Faschismus und Krieg wie auch die Verpflichtung zu Wiedergutmachung. Stattdessen wurden von ihm jene Denkmuster vorgeformt, die bis heute kolportiert werden: Er wies den Deutschen die Rolle von Opfern zu, indem er prononciert das Schicksal der Kriegsgefangenen sowie der Vertriebenen thematisierte und die Berechtigung der Oder-Neiße-Grenze anfocht. Er folgte bereits dem Bild von den beiden Diktaturen, indem er in einem Atemzug die Verletzung der Persönlichkeitsrechte im »nationalsozialistischen Reich« und in der »Ostzone« rügte.

Den Begriff Faschismus mied er und gebrauchte stattdessen die von den Hitlerfaschisten selbst in Umlauf gebrachte und bis heute in der Sprache der politischen und medialen Wortführer bevorzugten Selbstbenennungen »Nationalsozialismus« und »nationalsozialistisch«. Diese Begrifflichkeit diente und dient nicht nur dazu, den Faschismus in die Nähe des Sozialismus zu rücken. Sie vernebelt auch, dass der Nazismus in weitaus älteren reaktionären, chauvinistischen, militaristischen und rassistischen Ideologien und Praktiken wurzelt, die von ihm ins Extrem und bis zu barbarischen Exzessen getrieben wurden. Was Adenauer an der NS-Zeit und deren Folgen beanstandete, das waren lediglich »die durch 15 Jahre Zwangswirtschaft und Kriegswirtschaft entstandenen Strukturfehler der deutschen Wirtschaft« und der »Mangel an fachlicher Ausbildung, wie er durch die nationalsozialistische Zeit und die Kriegszeit verursacht worden ist«. Er kritisierte die Entnazifizierung, durch die »viel Unglück und viel Unheil angerichtet worden« sei. Es werde daher die Frage der Amnestie geprüft werden. Von Fürsorge für die Opfer des Faschismus war nicht die Rede.

In Otto Grotewohls Regierungserklärung wehte demgegenüber der Atem der Geschichte. Er schlussfolgerte zugespitzt und vereinfachend, dass in Westdeutschland wieder »dieselben Kräfte an der Macht« sind, »die in Deutschland die faschistische Herrschaft errichtet und den Hitlerkrieg inspiriert hatten«. Demgegenüber beschrieb er die Deutsche Demokratische Republik vor allem als Abkehr vom Irrweg deutscher Geschichte. Die faschistische Diktatur und deren Griff nach der Weltherrschaft waren bei ihm eingeordnet in den Werdegang des deutschen Imperialismus, dessen Grundlagen auch in der Weimarer Republik fortbestanden. »Die demokratischen Gegenkräfte in Deutschland wären vereint in der Lage gewesen, das Unheil aufzuhalten. Sie hatten sich jedoch von den Feinden des Volkes ausein-anderbringen lassen und wurden getrennt geschlagen und vernichtet.«

Im Gegensatz zum Bundeskanzler bekannte sich der Ministerpräsident der DDR zu deutscher Schuld und Verantwortung wie auch zu den verbindlichen Bestimmungen des Potsdamer Abkommens, zu den Deutschland auferlegten Reparationsverpflichtungen und zur Oder-Neiße-Grenze. Er forderte, »der Wiederbelebung faschistischer, militaristischer und antisemitischer Ideen sowie einer solchen Betätigung mit der ganzen Schärfe des Gesetzes entgegenzutreten.« Adenauer sprach demgegenüber von »hier und da anscheinend hervorgetretenen antisemitischen Bestrebungen. Wir halten es für unwürdig und für an sich unglaublich, daß nach all dem, was sich in nationalsozialistischer Zeit begeben hat, in Deutschland noch Leute sein sollten, die Juden deswegen verfolgen oder verachten, weil sie Juden sind.« Eine derartige Verniedlichung des Antisemitismus lässt sich schwer überbieten.

Auch Grotewohl sparte die von Adenauer behandelten Probleme der Vertriebenen, der Kriegsgefangen und der Entnazifizierten nicht aus, bediente sich aber nicht dessen anklagenden Tones. Er sprach von der »weiteren sinnvollen Eingliederung der Umsiedler«, vom Bemühen um die Rückkehr der »letzten kriegsgefangenen Soldaten«, von der »Rückführung« der »ehemaligen Mitglieder der Nazipartei, soweit sie nicht Strafen für ihre Verbrechen verbüßen, als gleichberechtigte Bürger«. Vor allem aber hielt es die Regierung der DDR für ihre Pflicht, »den überlebenden Widerstandskämpfern und den Witwen und Waisen der Opfer des Faschismus bei der Sicherung ihrer Existenz zu helfen«.

Die von den Regierungschefs abgegebenen Absichtserklärungen sind mit dem realen Geschehen der Folgezeit nicht einfach gleichzusetzen. Der Umgang mit der Vergangenheit - die Schuldzuweisung im Besonderen - war auf beiden Seiten der Logik des Kalten Krieges unterworfen. Hatte im Westen die 68er Bewegung Verkrustungen aufgebrochen und einen kritischeren Umgang mit der faschistischen Vergangenheit befördert, so hatten im Osten der zur Legitimation des DDR-Systems benutzte Antifaschismus und die in Routine verfallende Erinnerungskultur im Laufe der Jahre viel von ihrer Anziehungskraft verloren.

Im Jahr der deutschen Einheit bot sich die Chance, Versäumtes nachzuholen und Fehlentwicklungen zu korrigieren. Indes tauchten in den Verlautbarungen des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl vom Oktober 1990 die Begriffe Antifaschismus wie auch Faschismus nirgendwo auf. Und auch kein Wort über die Gefahren des Neofaschismus oder eines Rechtsrucks im vereinten Deutschland.

Prof. Dr. Günter Benser, Jg. 1931, letzter Direktor des Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung in Berlin, ist Mitglied der Leibniz-Sozietät und der Historischen Kommission beim Parteivorstand DIE LINKE

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