Die in den letzten Wochen viel zitierte politische Lösung in Afghanistan droht hinter den mit Bombenhilfe der USA erkämpften militärischen Erfolgen der Nordallianz ins Hintertreffen zu geraten.
Nordallianz-Außenminister Abdullah Abdullah hat alle afghanischen Gruppen - ausgenommen die Taleban - eingeladen, sich umgehend zu Gesprächen in Kabul zu versammeln. Thema: Die Bildung einer Übergangsregierung. Lakhdar Brahimi, der Sonderbeauftragte für Afghanistan des UNO-Generalsekretärs, sagte, der Zeitfaktor spiele jetzt die wesentliche Rolle. USA-Außenminister Colin Powell drängte die in New York beratenden Außenminister der Nachbarstaaten Afghanistans mit den Worten »Tempo, Tempo, Tempo« zur Einigung auf einen Plan für die Stationierung von Friedenstruppen in Kabul. Und Abdul Sattar Sirat, der Berater von Ex-König Zahir Shah, hofft, dass die Vereinten Nationen schnell eine Lösung finden, »die die Rechte aller Afghanen berücksichtigt«.
Dem liegt die Besorgnis zu Grunde, die Nordallianz könnte ihre militärischen Vorteile eigenmächtig missbrauchen und ein Regime errichten, das von dem starken paschtunischen Bevölkerungsteil nicht akzeptiert wird.
Bisher gibt es für einen solchen Alleingang keine ernsthaften Anzeichen. Die Allianz zeigt bemerkenswerte Zurückhaltung. Offensichtlich hat sie begriffen, dass sie im Blickpunkt der internationalen Öffentlichkeit steht, dass man von ihr die Respektierung der Menschenrechte erwartet und von ihrem Verhalten viel für die Zukunft des Landes abhängt. Jedenfalls ist es bisher nicht zu den befürchteten Massakern an den paschtunischen Landsleuten gekommen. Zorn und blutige Vergeltung richteten sich vornehmlich auf arabische und andere ausländische Taleban. Auch in Pakistan agierende oppositionelle afghanische Paschtunen bestätigen das. So sagte Pir Sayed Ahmad Gilani, der vor einigen Wochen eine gegen die Taleban gerichtete Plattform gebildet hatte, die Nordallianz sei nur deshalb in Kabul, weil dort nach dem hastigen Abzug der Taleban ein organisatorisches Vakuum entstanden war.
Obwohl der Zeitfaktor allen bewusst ist, lassen die Bedingungen in Afghanistan - vor allem die ethnisch vielfältige Struktur - eine von außen aufgezwungene Verwaltung nicht zu. Doch damit nicht genug: Die Arbeit des wichtigsten internationalen Beratungsgremiums, die »Gruppe 6 plus 2«, die den Anstoß für eine politische Lösung geben soll, verläuft nicht so zügig wie erforderlich, weil alle Beteiligten auch starke Eigeninteressen zu berücksichtigen haben. Die Sechs sind Afghanistans Nachbarn Iran, Pakistan, Turkmenistan, Usbekistan, Tadshikistan und China. Plus 2 sind die USA und Russland. Iran unterstützt vor allem die schiitische Minderheit in Afghanistan und hat die Nordallianz kontinuierlich mit Kriegsmaterial beliefert. Die drei mittelasiatischen Republiken sympathisieren natürlich mit der jeweiligen ethnischen Minderheit in Afghanistan und haben einen gemeinsamen Feind - islamischen Fundamentalismus und Extremismus. Von den Taleban mussten sie den Export dieser brisanten Mixtur befürchten. Die Beteiligung an der Antiterrorkampagne, die automatisch engere Kooperation mit den USA bedeutet, stellt den drei bedürftigen Republiken aber auch finanzielle, wirtschaftliche und Entwicklungshilfe in Aussicht. China beobachtete das Treiben der Taleban mit Argwohn, weil es in seiner autonomen Region Xinjiang, wo muslimische Uiguren leben, einen Aufschwung religiöser Aktivitäten registrierte und nun hofft, diese Tendenz zu stoppen, ohne dafür internationale Schelte quittieren zu müssen. Pakistan blieb keine andere Wahl, als sich von den Taleban, seiner eigenen Schöpfung, zu trennen. Trotzdem möchte es - aus strategischen Erwägungen und wegen der Blutsverwandtschaft seiner Bevölkerung in der Provinz Belutschistan und in der Nordwestlichen Grenzprovinz mit den Paschtunenstämmen - auf den Nachbarn auch unter veränderten Verhältnissen möglichst starken Einfluss ausüben. Islamabad prägte deshalb den Begriff »moderate Taleban«, die in der künftigen Politik Afghanistans eine Rolle spielen sollten. Eine Absicht, die wenig Anklang fand. Pakistans Präsident General Musharraf gibt dennoch nicht auf. Bei einem Zwischenaufenthalt in Istanbul erklärte er, sehr wichtig sei für Afghanistan jetzt eine UNO-Streitmacht, die aus Ländern der Organisation der Islamischen Konferenz bestehen sollte. Die Türkei, vielleicht auch Pakistan könnten dabei eine Rolle spielen. Auch diese Absicht wird sich voraussichtlich nicht verwirklichen lassen. Russland hat vor allem Tschetschenien im Blick. Die USA halten nach außen an der anfänglichen Zielstellung fest, Osama bin Laden zu fassen, dessen Netzwerk Al Qaida und die Taleban-Strukturen zu zerschlagen. Sie dürften zugleich aber auch erfreut sein, dass sie in Afghanistan und in Zentralasien festen Fuß gefasst haben und die Chancen enorm gestiegen sind, Zugriff zum Reichtum an Erdöl und Erdgas der Region zu erlangen.
Nicht zu übersehen ist noch ein Interessent, der sich den »6 plus 2« wärmstens empfiehlt - Indien. Es möchte im afghanischen Spiel direkt und nicht von der Peripherie aus mitmischen und vielleicht auf diesem Wege sein Problem mit dem von Pakistan gesponserten »grenzüberschreitenden Terrorismus« in Jammu und Kaschmir aus der Welt schaffen.
Vor diesem Hintergrund erweist sich die Orientierung Lakhdar Brahimis, das Beste wäre, wenn die Afghanen bezüglich Übergangsverwaltung und Gewährleistung der inneren Sicherheit selber ihre Angelegenheiten regelten, als vernünftig. Allerdings würde dann wohl alles doch noch etwas länger dauern. Und ein enormer Risikofaktor bleibt, denn schließlich haben sich die Taleban ja nicht in Luft aufgelöst.