Russland und die USA - Freund oder Feind?

Perspektiven der bilateralen Verhandlungen über den Abbau von Atomwaffen

  • Wolfgang Kötter
  • Lesedauer: 5 Min.

US-Präsident Barack Obama und Russlands damaliges Staatsoberhaupt Dmitri Medwedjew hatten den Neu-START-Vertrag, ein Nachfolgeabkommen zum 2009 ausgelaufenen START-I-Vertrag, am 8. April 2010 unterzeichnet. Darin verpflichteten sich die Partner, die Zahl ihrer nuklearstrategischen Trägermittel - U-Boote, Interkontinentalraketen und Langstreckenbomber - innerhalb von sieben Jahren auf jeweils 800 zu halbieren und die Zahl der Sprengköpfe um fast ein Drittel auf 1550 zu verringern.

Obwohl beide Seiten mehrfach die Bereitschaft zur weiteren Verkleinerung ihrer Atomwaffenarsenale bekundeten, verliefen die Verhandlungen bisher ergebnislos. Als Haupthindernis erwies sich das Problem der Raketenabwehr. »Wir sehen es als Bedrohung an, wenn unsere Partner derartige Systeme aufbauen«, warnt Russlands Präsident Wladimir Putin. Das ist keine reine Propaganda, denn eine einseitige Raketenabwehr, die ankommende Offensivwaffen zerstört, entwertet das Offensivpotenzial der anderen Seite. Da es aber keine 100-prozentig sichere Abwehr gibt, wäre die wirksamste Reaktion darauf eine größere Zahl von Offensivwaffen. Dadurch wäre erreicht, dass genügend Geschosse durch den gegnerischen Abwehrschirm dringen, um unerträglichen Schaden anzurichten.

Seit die Regierung Bush den ABM-Vertrag zur Begrenzung der Defensivsysteme 2002 einseitig aufgekündigt hat, herrscht ein rechtsfreier Raum für den Aufbau von Raketenabwehrsystemen. Aus diesem Grund beharrte Russland darauf, in den Neu-START-Vertrag eine diesbezügliche rechtsverbindliche Formulierung aufzunehmen. Sie konnte das aber nur teilweise durchsetzen. In der Vertragspräambel wird zwar auf den Zusammenhang zwischen Offensiv- und Defensivwaffen verwiesen, nicht aber im operativen Teil. Der Streit darüber hält bis heute an. Moskau fordert nach wie vor juristische Garantien für die Nichtausrichtung eines europäischen Raketenabwehrsystems gegen Russlands strategisches Potenzial.

Eigentlich hatten sich die NATO und Russland bereits auf dem Lissabonner Gipfeltreffen 2010 grundsätzlich auf eine Zusammenarbeit bei der Raketenabwehr geeinigt. Aber die Verhandlungen gerieten bald in eine Sackgasse. In den USA war das innenpolitische Klima während des Wahlkampfes hochgradig erhitzt und für den in den Kreml zurückgekehrten Wladimir Putin war unklar, wer nach den Wahlen im Weißen Haus das Sagen haben würde. Also stockten die bilateralen Abrüstungsverhandlungen monatelang.

Inoffiziell hatte Obama allerdings Kompromissbereitschaft für den Fall seiner Wiederwahl angekündigt. Russlands Außenminister Sergej Lawrow versicherte seiner bisherigen Amtskollegin Hillary Clinton, Moskau werde weiterhin nach Vereinbarungen suchen, die russischen Sicherheitsinteressen gerecht werden. Auch aus dem State Department verlautete Anfang des Jahres: »Wir streben noch immer die Zusammenarbeit mit Russland bei der Raketenabwehr an ... denn wir sind mit denselben Gefahren konfrontiert.« Aber selbst wenn es gelingt, die Verhandlungen wieder zu aktivieren, bleiben etliche politische, militärische und technische Probleme.

Die USA wollen in künftige Verhandlungen auch die eingelagerten Nuklearsprengköpfe und die sogenannten taktischen Atomwaffen einbeziehen. Dazu zählen Sprengköpfe für Kurzstreckenraketen, Artilleriemunition und Atomminen. Zwar waren beide Seiten grundsätzlich übereingekommen, auch diese Waffenarten abzubauen, bis auf einseitig verkündete Reduzierungen ist dies aber nicht geschehen. Je nach Definition wird ihre Gesamtzahl auf 5000 bis 20 000 geschätzt. Sollten sie weiter unberücksichtigt bleiben, würde ihre Bedeutung bei weiterer Abrüstung der Langstreckenwaffen zunehmen. Möglicherweise entstünde eine Grauzone für eine neuerliche nukleare Aufrüstung.

Russland betrachtet derartige Waffen im Gesamtkontext der militärischen und sicherheitspolitischen Kräftebalance. Ungeachtet dessen ist Moskau laut Vizeaußenminister Sergej Rjabkow zu einem Dialog über einen Vertrag zur Reduzierung der taktischen Kernwaffen bereit. Zunächst aber solle Washington alle im Ausland gelagerten nuklearen Gefechtsköpfe auf sein Territorium zurückziehen und die Infrastruktur für einen raschen Rücktransport beseitigen.

Grundsätzlich ist Russland daran interessiert, die Kernwaffenarsenale zu verringern, weil es sich die riesigen Mengen strategischer Vernichtungsmittel nicht mehr leisten kann. Schon die bis 2015 für atomare Aufrüstungsmaßnahmen vorgesehenen rund 100 Milliarden Rubel werden dringend für andere Zwecke benötigt. Auch in den USA mehren sich trotz Widerstands der Rüstungslobby Stimmen, die weitere Abrüstungsschritte fordern. »Kürzungen von über 100 Milliarden Dollar in den Atomwaffenprogrammen in den kommenden zehn Jahren sind möglich«, heißt es in einem offenen Brief demokratischer Kongressabgeordneter.

Daneben gibt es für Moskau und Washington auch gemeinsame Motive. Schon 2015 tagt die nächste Konferenz zur Überprüfung des Atomwaffensperrvertrags. Ohne deutliche Abrüstungsschritte der Kernwaffenmächte droht das ohnehin brüchige Nichtverbreitungsregime vollends auseinanderzufallen. Wenn sich also Obama und Putin irgendwann in Moskau treffen, werden sie auch zum Thema nukleare Abrüstung reichlich Gesprächsstoff haben.

Lexikon: Abrüstungsverträge

ABM-Vertrag (Anti Ballistic Missile Treaty): 1972 schlossen die USA und die UdSSR den ABM-Vertrag, der den Aufbau nationaler Abwehrsysteme gegen ballistische Raketen verbot und die Stationierung von Komponenten für die Raketenabwehr auf See, in Flugzeugen und im All ausschloss. Um freie Hand für die Entwicklung eines globalen Raketenabwehrsystems zu bekommen, kündigten die USA den Vertrag 2002 einseitig.

INF-Vertrag (Intermediate Range Nuclear Forces): Am 8. Dezember 1987 von Michail Gorbatschow und Ronald Reagan in Washington unterzeichnet, verbot der INF-Vertrag eine ganze Kategorie von Waffen. Beide Seiten verpflichteten sich, alle Raketen und Marschflugkörper (Cruise Missiles) mit mittlerer und kürzerer Reichweite von 500 bis 5500 km zu beseitigen. Daraufhin vernichteten die UdSSR 1846 und die USA 846 Raketen – 3 bis 4 Prozent ihrer Nuklearpotenziale.

START I (Strategic Arms Reduction Treaty): Der erste Vertrag zum Abbau strategischer Nuklearwaffen wurde am 31. Juli 1991 von George Bush Sen. und Michail Gorbatschow unterzeichnet. Er sah eine Verminderung auf jeweils 1600 Trägersysteme mit maximal 6000 anrechenbaren Nukleargefechtsköpfen vor. Der Vertrag lief am 5. Dezember 2009 aus.

START II: Der Vertrag, im Januar 1993 von Bush Sen. und Boris Jelzin unterzeichnet, trat formal nie in Kraft, die Hauptbestimmungen wurden aber weitgehend eingehalten. Vereinbart war der Abbau der strategischen Atomsprengköpfe auf jeweils 3000 bis 3500. Den Verzicht auf Mehrfachsprengköpfe erklärte Russland nach Aufkündigung des ABM-Vertrages über die Raketenabwehrsysteme durch die USA 2002 für obsolet.

SORT (Strategic Offensive Reduction Treaty): Der Vertrag über die Reduzierung Strategischer Offensivwaffen, im Mai 2002 von Wladimir Putin und George W. Bush unterzeichnet, trat am 1. Juni 2003 in Kraft. Er enthielt die Verpflichtung, die strategischen Kernwaffenpotenziale binnen zehn Jahren um zwei Drittel auf je 1700 bis 2200 zu verringern. Die Sprengköpfe sollten allerdings nur eingelagert werden, sodass sie jederzeit für neue Waffen umgerüstet werden könnten. Der Vertrag lief Ende 2012 aus.
⋌ WK

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