Die Herrschaft der Akten

Tom Strohschneider zur Debatte über MfS-Vorwürfe gegen Gregor Gysi

  • Tom Strohschneider
  • Lesedauer: 3 Min.

Es ist nicht lange her, da verwies Egon Bahr darauf, dass die für die Verwaltung der Unterlagen der DDR-Staatssicherheit zuständige Behörde einen Fluss an Informationen nicht habe verhindern können, »die Persönlichkeiten diffamierten und deren Wahl gefährdeten«. Der große alte Sozialdemokrat sprach dies auf einem Festakt für Manfred Stolpe aus. In den Zeitungen war danach von einem »Eklat« die Rede.

Aber wer hat ihn produziert? Bahr, weil er aussprach, was über 20 Jahre Umgang mit DDR-Geschichte dominiert hat? Die Frage lässt sich ebenso gut dieser Tage aufwerfen, da gegen Gregor Gysi wegen angeblicher eidesstattlicher Falschaussage ermittelt wird.

Die Sache im engeren Sinne reicht ins Dickicht juristischer Spitzfindigkeiten: Hat sich der Linksfraktionschef mit seiner nun inkriminierten Aussage lediglich gegen die Unterstellung eines NDR-Films zur Wehr setzen wollen, er habe in der DDR seine Mandanten an das MfS verraten? Oder darf sie so verstanden werden, als habe der Rechtsanwalt nie und nimmer wissentlich mit der Staatssicherheit gesprochen? Was eigentümlich wäre, hat Gysi doch selbst mehr als einmal erklärt, das MfS sei auf ihn zugegangen; abgesehen davon, dass die anwaltliche Vertretung von Oppositionellen in der DDR kaum ohne solche Kontakte möglich war.

Ein Gericht wird wohl darüber entscheiden. Doch der Hinweis auf die Unschuldsvermutung, die für jeden so lange gilt, bis anderes rechtsstaatlich erwiesen ist, kommt hier nur schwach zum Tragen. Denn die Schlagzeilen, die der »Fall Gysi« produziert, schillern in anderen Farben: Stets ist von »neuen Stasi-Vorwürfen« die Rede, obgleich solche nicht vorliegen. Dass ein Vermerk über ein Gespräch von zwei MfS-Offizieren mit Gysi über ein »Spiegel«-Interview im Jahr 1989 existiert, hatte die »Welt« bereits im April 2012 publik gemacht.

Trotzdem ist nicht die angebliche Kampagne irgendeiner Zeitung oder gar der Staatsanwaltschaft das, worüber nun vor allem zu diskutieren wäre. Sondern die ungebrochene Herrschaft der Akten der Staatssicherheit, jener Behörde, die sonst mit Recht kritisiert wird - deren »Arbeit« man im Fall Gysi aber interessanter Weise eher Glauben zu schenken bereit ist, als einem parteiübergreifend respektierten Politiker.

Drei Dinge dazu: Erstens, es war der Innenstaatssekretär Eduard Lintner, der 1991 in der Bundestagsdebatte über das Stasi-Unterlagengesetz erklärte, »niemand wird auf die Idee kommen, dass diese Schnüffelakten immer nur die Wahrheit enthalten«. Zweitens, eben jener CSU-Politiker forderte seinerzeit, auch »diejenigen, die individuelle Schuld auf sich geladen haben, dürfen nicht auf Dauer ausgegrenzt werden«. Und drittens: Die Schlagzeilen gegen Gysi sollten Anstoß sein, aus dem Kreisverkehr einer DDR-Aufarbeitung auszusteigen, die diesen Namen gar nicht verdient.

Dazu wäre es nötig, endlich eine Entscheidung über die Zukunft der Unterlagen-Behörde herbeizuführen. Schwarz-Gelb hat nicht einmal die Kommission eingesetzt, die dies vorbereiten sollte. Warum? Weil es ihr nützt, dass diese Behörde eine Versöhnung, von der ihr Leiter Roland Jahn spricht, so wenig voranbringt wie sie dabei hilft, ein realistisches, und natürlich: kritisches Bild von der Wirklichkeit der DDR zu zeichnen. Solange DDR-Geschichte vorrangig aus den Stasihinterlassenschaften erzählt wird, bleibt die Herrschaft der Akten ungebrochen.

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