Ist Demut schon Mut?
Die Jury als Richteramt
In wenigen Tagen werden die Bären der Berlinale vergeben, und ins Gedächtnis kommt jenes Credo, mit dem Jury-Präsident Wong Kar Wai schon zu Beginn des Filmfestivals überrascht hatte: »Lasst uns demütig sein! Wir müssen uns wie ein Publikum verhalten und die Filme erfühlen!«
Demut als wichtigstes Gemütsgut, um Bestprodukte zu küren? Zufällig wurde soeben auch die Liste der zum Theatertreffen im Mai in Berlin geladenen zehn »bemerkenswertesten« Inszenierungen bekanntgegeben. Der rituelle Medienreflex nach dieser Nominierung: Wieder hat sich eine Jury in ihrer »Willkür« gefeiert.
Hier Demut, dort Willkür. Angesprochen ist mit Wong Kar Wais Äußerung ein Grundproblem der öffentlichen Kunstbetrachtung - die ein Teil des mächtigen Meinungsgewerbes ist. Ein Wort wie das von der Demut wirkt unangemessen in einer Welt des Niederreißens, der Enthüllung, der Gier nach Rangordnungen und der dem zugrunde liegenden Willen, diese Rangordnungen so zu kreieren, dass auf den Rangordner das gleißendste Licht fällt.
Juroren sind Kritiker, und deren Grundgesetz heißt Treue zum Maßstab. Das klingt erhebend, streng, respektheischend. Aber man kann das Ganze kühl profanisieren und kommt unweigerlich der anderen Wahrheit nahe: Maßstab ist doch nur ein anderes Wort für Vorurteil; der Maßstab ist der Prügel des Kritikers; im Anfang des Maßstabs ist die Willkür; die Maßstäbe von gestern sind die Irrtümer von heute; jeder macht sich seinen Maßstab selbst; Maßstäbe geben die Farbe in Zentimetern an; alle Maßstäbe sind unverbindlich, so wie die Messinstrumente und die Messenden unzulänglich bleiben. Fazit: Ohne Maßstäbe ginge es auch - aber der Juror wie der Kritiker kann nicht aus der Haut seiner Sehnsucht: Gott zu sein in einer Welt, die er selber nicht schuf.
Wie das tapfere Schneiderlein haut der Kritiker um sich. Mit einer Elle. Und so heißt es schnell, nichts sei doch vergnüglicher (zu schreiben, zu lesen) als ein Verriss. Kerr, Polgar! Und immerhin war es Walter Benjamin, ein Patron der Branche, der zu Protokoll gab: »Nur wer vernichten kann, kann kritisieren.«
Dagegen gefragt: Was fehlt uns eigentlich, dass wir das so unbedingt brauchen, dieses Absprechen, dieses Verurteilen, dieses Verneinen? Kann das Leben denn wirklich zerschnitten werden in richtig und falsch, wahr und unwahr, gut und schlecht? Interessant ist eine Kritik, die sich selber problematisch bleibt. Ein Kunstwerk, das solche Kritiker hervorbringt, interessiert mich. Die Flop- oder Topgeste ist langweilig, sie ist Machtausübung im Kostüm des Dienens.
Martin Walser machte einen Vorschlag, den er selber vorsichtshalber als weltfremd bezeichnete: »Wenn es stimmt, dass das Zustimmen so viel mehr Schönheit schafft als das Negieren, dann wäre es doch empfehlenswert, wenn Kritiker nur noch schrieben, wenn sie zustimmen können. Die Auslese- oder Verwerfungsprozedur fände genau so statt wie bisher: ein Buch, über das nicht geschrieben wird, hat keinem gefallen.«
Natürlich wird die Jury der Berlinale ihre unumstößlichen, klar begründeten Entscheidungen treffen, es wird hoffentlich eine große Gerechtigkeit in der noch größeren Ungerechtigkeit sein, und die Inszenierungen des Theatertreffens werden sich ebenfalls dem Vergleich stellen müssen. Aber dass des Filmfestivals First Juror prononciert über Demut sprach und damit einen kleinen Wirbel auslöste - dies verweist auf bedenkenswerte Kritik an einer Haupttonart der Medienwelt. Diese Haupttonart gibt sich als Gesetzeskraft, als Besserwissen; nicht umsonst nennt man die Medialkraft die »vierte Gewalt« im Staat. Ja, Gewalt. Die Gewalt des Kritikers darf so tun, als sei sie der Sachverhalt selbst, sie ist aber nur das Mittel, mit dem ein Einzelner auf einen Sachverhalt einwirkt. Oft auch nur einschlägt.
Bewertende Autorität möge also besser, so der gewünschte Impuls von Wong Kar Wai, in der fortwährenden Relativierung von Urteilen entstehen. Das ist sehr schwer zu erreichen, aber dass sie schwer erreichbar ist, bleibt die Krux von Autorität. Hegel überlieferte: Wenn die Studenten Fichtes auf der Tafel den von Fichte hingeschriebenen Satz lesen sollten, dann mussten sie dazu sagen, dass sie es sind, die jetzt diesen Satz lesen. Und wie wäre es mit der Anwendung der Heisenbergschen Unschärferelation: Wenn ein Elektron nicht beobachtet werden kann, ohne dass sein Zustand geändert wird, dann muss der Beobachter sich selbst als Störung in die Beobachtung einbringen. Das ist die angesprochene Demut des Kritikers: sich einfühlen, nicht drüberstehen - und immer davon ausgehen, dass die eigene Sicht eine begrenzte, nicht das Absolute ist. Wer sich (Wong Kar Wai: »fühlend«) einbringt, wird Teilnehmender am Kunstwerk - und also stiller, feinsinniger für alles, was (in einem Werk) einander widerspricht und doch ein Ganzes bildet. Wer etwas erfühlt, verliert Lust an Eindeutigkeitsprädikaten.
Aber eben, wie gesagt: Eindeutigkeitsprädikate prägen diese Gesellschaft. Selbstbestätigung durch Verächtlichmachung anderer; Vorteilskampf durch Bloßstellung; kein gutes Haar lassen, wo es hingehört, nein, es muss in die Suppe! Das ist die Praxis im Wahlkampf, in der Talkshow, in der Rankinglistengier, auf dem Konkurrenzmarkt, schier überall. Noch einmal Martin Walser: »Mütter sind vielleicht die einzigen Lebewesen, die auf ihre Kinder, wenn sie denen etwas beibringen wollen, bejahend reagieren. Väter neigen dazu, Kinder spüren zu lassen, dass sie etwas nicht können, was der Vater kann.« Der Schriftsteller Walser ist oft auch Rezensent: »Ich habe wahrscheinlich Glück gehabt, die mütterlichen Gesten überwogen und haben sich in mir durchgesetzt gegen die straffreudige Aufführung vaterhafter Anmaßung.«
Natürlich sind Festival-Jurys keine medialen Gewalttäter, keine eingefleischten Nörgler, keine Richtergierlinge. Und Wertung muss sein! Aber dass eine Jury von Demut spricht, hat seine gesellschaftsbedingt assoziative Wirkung. In einer Zeit, in der zu Demut offenbar - Mut gehört.
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