Wenn die Erde bebt

Don DeLillo: »Der Engel Esmeralda« führt in leuchtenden Bildern vor Augen, was jeder als alltägliche Beklemmung kennt

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 4 Min.

Der erste Erzählungsband eines Weltklasseautors: Don DeLillo gilt vornehmlich als Romancier - als Künstler, der auf zugespitzte Art ins Bild bringt, was jeder als alltägliche Beklemmung kennt. Vielleicht nur als leichten Druck auf der Brust, als Unbehagen, dass sich etwas nicht ganz richtig anfühlt im eigenen Leben und im großen Ganzen. Als vage Ahnung, dass es nicht nur einen selbst betrifft, sondern ins Weite, ins Tiefe reicht.

Krisenstimmung wäre das banale Wort dafür, das für DeLillos Werk allerdings als Etikett nicht taugt. Denn seine Einfälle leuchten, seine Bilder brennen sich ein, und siehe, das Trübe lichtet sich für Momente sogar. Wunderbare Erhellung, wenn der Nebel der Scheinheiligkeit aufreißt, wenn wir der Schrecken ganz gewahr werden und damit der Hoffnung auch.

Die neun Erzählungen, entstanden zwischen 1979 und 2011, zeigen sozusagen einen Querschnitt durch DeLillos Schaffen, Sie führen immer wieder in überraschende Situationen, mitreißend, spannend, und bekräftigen zugleich jenen Grundton gebändigter Verzweiflung, den man aus seinen Romanen kennt.

Das Motiv der Verlorenheit: In der ersten Erzählung, »Schöpfung« von 1979, scheint der Flughafen einer südlichen Insel für drei Menschen ein Endpunkt zu sein. Ihre Namen stehen tagelang auf Wartelisten, Flugzeuge heben ohne sie ab und kommen schließlich nicht einmal mehr an.

Anders und doch ähnlich die Irritation, die in der letzten Erzählung, »Die Hungerleiderin« von 2011, beschrieben wird: Da geht es um einen Mann, der seine Tage fast nur noch im Kino verbringt, wohl wissend, dass dies Ersatzwirklichkeit ist. Er wünscht sich schon nicht einmal mehr, den Kokon zu sprengen, in den er sich eingesponnen hat. Aber etwas bricht eben doch auf ...

Wie sollen wir leben, wenn wir um all die Schwierigkeiten wissen, wenn wir begriffen haben, was für winzige Wesen wir im Universum sind, wie wir letztlich an Fäden hängen, die anderswo bewegt werden und dass wir am Ende vergehen müssen?

Was kann zum Beispiel eine junge Frau tun, wenn ihr Zimmer sich bewegt (»Die Akrobatin aus Elfenbein«, 1988)? Kann man sich an Erdbeben gewöhnen? Die meisten in ihrer Umgebung scheinen gut damit zurechtzukommen. Aber in ihr beginnt sich etwas zu verschieben. »Das Beben wohnte unter ihrer Haut.« Da schenkt ihr ein Freund die Kopie einer kleinen minoischen Skulptur: Eine junge Frau springt graziös über die Hörner eines angreifenden Stiers. Wie wäre es, eine solche Haltung zu verinnerlichen?

Aber nein, Lösungen werden hier nicht angeboten. Mehr als kleine Linderungen, kleine Erleichterungen kann es nicht geben, doch immerhin. Die düstere Vision aus der Titelerzählung, »Der Engel Esmeralda« von 1994, erscheint als reale Möglichkeit: die Bronx als Slum wie in der dritten Welt. Verwahrlosung, Gewalt, gegen die sich tapfer ein paar Nonnen stemmen. Ein ermordetes Kind als Engelsphantom.

In »Hammer und Sichel« von 2010 sind die Insassen eines Gefangenenlagers gebannt von einer Fernsehserie: Zwei Kinder (die Töchter des Ich-Erzählers) kommentieren die weltweite Wirtschaftskrise.

Das Dubiose ist, dass die Häftlinge früher mit Geld jongliert haben - ausschließlich aus diesen Gründen wurden sie verurteilt: »Steuerhinterziehung, Alimenteschulden, Insidergeschäfte, Meineid, Hedgefonds-Verbrechen, Postbetrug, Hypothekenbetrug, Versicherungsbetrug, Buchhaltungsbetrug, Strafvereitelung«. Und nun sehen sie begeistert zu, wie die Mädchen einen Volksaufstand beschwören - »Stalin Chrustschow Castro, Mao«, skandieren sie, »Lenin, Breschnew, Engels - Pow«. Dann minutenlanges Schweigen, und der Bildschirm wird dunkel. Es war nicht die Wirklichkeit.

Von einer Brücke aus, beobachtet der Ich-Erzähler den morgendlichen Berufsverkehr. »Das ist die Zivilisation, dachte ich ... Ungeachtet des schwärenden Gestanks nach verbranntem Treibstoff, der Verpestung des Planeten. Die Gefahr mag real sein, aber sie ist nur der Überzug, das unvermeidliche Furnier.«

Was er sah, hatte plötzlich die Wucht einer Vision: dass im Strom der Fahrzeuge eine unausgesprochene Einigkeit war. »Warum stoßen sie nicht ständig zusammen? Die Frage kam mir tiefschürfend vor, als der erste Tupfer Morgengrauen im Osten aufschien.«

Don DeLillo: Der Engel Esmeralda. Neun Erzählungen. Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert. Kiepenheuer & Witsch. 247 S., geb., 18,99 €.

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