Ethikkommissionen sollen ausgedient haben
Brüssel will Standards für Arzneimitteltests an Menschen senken / Widerstand aus Deutschland
Es liest sich wie ein Kniefall der EU-Kommission vor den Interessen der Industrie: Um die europäische Forschung zur Entwicklung neuer Arzneimittel wieder anzukurbeln, sollen ab 2016 die Standards gesenkt werden, unter denen neue Medikamente an Menschen gestestet werden dürfen. Ethische Bedenken sollen weniger wichtig werden, Kinder und Behinderte weniger vor Missbrauch geschützt sein. Und das alles, um Geld zu sparen, administrative Kosten zu senken und Forschung am lebenden Menschen in Europa wieder attraktiver zu machen.
Denn laut EU-Kommission ist in Europa die Zahl der sogenannten klinischen Prüfungen in den letzten Jahren um 25 Prozent zurückgegangen. Wurden 2007 über 5000 Genehmigungen für solche Prüfungen beantragt, so waren es 2011 nur noch 3800. Heute würden viele Tests in Afrika und Asien gemacht, weil es dort billiger ist.
Doch gegen die Brüsseler Pläne regt sich Widerstand, vor allem in Deutschland. Der Bundestag hatte Ende Januar fraktionsübergreifend ein 14-Punkte-Papier mit Änderungswünschen verfasst. Sie sollen im EU-Ministerrat, der gleichberechtigt neben dem Europaparlament über die genaue Formulierung des neuen EU-Gesetzes entscheidet, durchgedrückt werden. Einer der Hauptkritikpunkte ist die geplante Abschaffung von Ethikkommissionen. Sie müssen etwa in Deutschland zunächst ihr Einverständnis geben, bevor Tests von neuen Medikamenten an Menschen begonnen werden dürfen. Der Vorschlag Brüssels sieht solche Ethikkommissionen jedoch nicht vor. Es sollen die Standards ausreichen, welche die mit dem jeweiligen Test beauftragte Einrichtung, meist eine Klinik, zu Grunde legt. Eine schwammige Formulierung, zumal die ethischen Vorstellungen in den EU-Ländern unterschiedlich ausfallen können.
»Wir dürfen nicht hinnehmen, dass Arzneimitteltests nur da durchgeführt werden, wo ein niedriges Schutzniveau für Patienten besteht. Dieses Ethik-Shopping können weder Ärzte noch Politiker verantworten«, kritisiert auch Peter Liese, Gesundheitsexperte der CDU im Europaparlament. Zwei Möglichkeiten gebe es, das zu ändern: Man schreibe die verpflichtende Befragung einer Ethikkommission ins Gesetz - was EU-Staaten, in denen das nicht praktiziert wird, als zusätzliche Belastung empfinden würden. Oder man erlaubt einzelnen Mitgliedstaaten, über die EU-Regeln hinaus eigene Vorschriften zu erlassen, um einen gewünschten Standard zu erhalten. Die EU-Kommission hat das neue Gesetz aber als Verordnung formuliert, die überall gleich ausgeführt werden müsste. Eine Verschärfung in einzelnen Ländern wäre nicht möglich.
Auf Kritik stößt auch der Plan, dass ein EU-Land beim Test federführend sein soll. Wenn dort ein neues Arzneimittel für gut befunden wird, soll es in allen anderen EU-Mitgliedsstaaten zugelassen und verkauft werden können. Die Möglichkeit, dass einzelne Staaten Medikamente verbieten, soll wegfallen. In welchem Land und in welcher Einrichtung ein neues Arzneimittel an Menschen getestet wird, soll der Hersteller vorschlagen dürfen. Auch diesen Punkt kritisiert der Bundestag, aber auch Liese und Frank Ulrich Montgomery, der Präsident der Bundesärztekammer. Dann bestünde die Gefahr, dass nur Länder mit niedrigem Ethikstandard für Tests ausgesucht würden.
Voraussichtlich im Juni soll das Plenum des Europaparlaments über den Vorschlag abstimmen. Wann der EU-Ministerrat seine Entscheidung trifft, ist noch offen.
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