Auf den Knien nach Ankara?
Türkei bringt die EU mit Forderungen nach beschleunigten Beitrittsgesprächen in Bedrängnis
Die Reden, die derzeit in Ankara gehalten werden, dürften die für die Beziehungen EU-Türkei zuständigen Brüsseler Beamten aus der gewohnten Ruhe bringen. Denn was der türkische Premier und seine Kabinettsmitglieder ankündigen, könnte das Ende des Stillstands im bilateralen Verhältnis bedeuten. Außenminister Ahmet Davutoglu erklärte kurz vor Weihnachten in Helsinki: »Wir werden niemals um eine EU-Mitgliedschaft betteln.« Und Regierungschef Recep Tayyip Erdogan denkt laut über ein generelles Ende des Beitrittsprozesses nach. Schließlich ignoriere Brüssel nach wie vor die Fortschritte in der Türkei, beispielsweise die im vergangenen Jahr durchgeführte umfassende Justizreform.
Die Drohgebärden sind nicht nur für potenzielle Wähler - in der Türkei stehen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen bevor - gedacht. Zwar treffen die Politiker die Stimmung im Land: Nur noch 47 Prozent der Türken haben ein positives Bild von Europa. Zugleich lässt Erdogan jedoch seinen Europaminister Egemen Bagis versöhnliche Töne anschlagen. Gemeinsam mit EU-Erweiterungskommissar Stefan Füle betonte er dieser Tage in Dublin den Willen, die Aufnahmegespräche ergebnisorientiert fortzusetzen. Überfällig ist das allemal. In den seit neun Jahren laufenden Verhandlungen wurde lediglich ein Kapitel abgeschlossen - das zur Forschungspolitik. Von den insgesamt 33 Themenkomplexen sind 20 noch offen, acht ausgesetzt. Als Ursache des Stillstands werden die Spannungen zwischen der Türkei und dem EU-Mitglied Zypern genannt. Dabei kommt dieser Konflikt allerdings einigen Europäern durchaus recht: Frankreich gilt als Gegner einer türkischen Vollmitgliedschaft, in Deutschland wird sie zumindest skeptisch gesehen. Begründet wird dies natürlich nicht mit Angst vor Migration oder einer Stärkung des Islam in Westeuropa, sondern mit »geografischen Grenzen« der EU.
Hinhalten lässt sich die Türkei jedoch nicht mehr. Mit einem geschätzten Wirtschaftswachstum von fünf Prozent in den kommenden Jahren schlägt die Türkei die EU-Staaten deutlich; in den nordafrikanischen Umbruchstaaten hat Ankara ebenso Pflöcke gesetzt wie im Nahen und Mittleren Osten. Wirtschafts- und außenpolitisch kommt die EU an der Regionalmacht Türkei nicht mehr vorbei und wird sich daher den Forderungen Ankaras nach zielorientierten Verhandlungen stellen müssen. Energiekommissar Günther Oettinger preschte in der vergangenen Woche schon vor: Wenn die EU nicht schnell reagiere, so warnte er, würden deutsche und französische Spitzenpolitiker in zehn Jahren »auf den Knien nach Ankara robben«, um die Türkei um einen Beitritt zu bitten.
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