Viel zu weites Land
Anderthalb Jahre nach der Verwaltungsreform hadert der Nordosten mit überdimensionierten Landkreisen
In Brandenburg hat gerade die Diskussion über eine Gebietsreform begonnen, die Mecklenburg-Vorpommern schon hinter sich hat. Wie problematisch eine radikale Reduzierung der Verwaltungseinheiten ist, zeigt der Alltag im Kreistag der Mecklenburgischen Seenplatte. Morgen verhandeln Kreise, Gemeinden und Landesregierungen über eine Neuverteilung der Aufgaben.
Am Montagabend herrschte mal wieder Hochbetrieb in der Mensa der Hochschule Neubrandenburg. Dabei waren die 2200 Studierenden, die sich in der drittgrößten Stadt Mecklenburg-Vorpommerns unter anderem in landwirtschaftlichen und sozialen Fächern ausbilden lassen, zu diesem Zeitpunkt längst versorgt. Wer abends regelmäßig für Betrieb sorgt in dem modernistischen Kubus an der Brodaer Straße, sind die Abgeordneten des Landkreises Mecklenburgische Seenplatte. Und die haben gewöhnlich viel zu tun.
Auf der Tagesordnung standen am Montag gut 40 Punkte - 32 allein unter »Wahlen und Bestellungen«, neun tatsächlich inhaltliche. Das Gremium tagte von 17 bis 22 Uhr. »Das ist schon eine Menge Arbeit«, sagt Stefan Freydank. Der Geschäftsführer der 16-köpfigen LINKE-Fraktion ist einer der wenigen, die hauptberuflich mit dem 2011 neu gebildeten Groß-Kreistag befasst sind. Weitere Mitarbeiter hat er in seiner Fraktion nicht, bei den anderen Parteien sieht das nicht viel anders aus.
Es gibt aber auch eine Menge zu verwalten und zu regieren für die vier Mal im Jahr zusammentretende Versammlung. Wer deren Einflussgebiet räumlich erleben möchte, nimmt am besten die alte Bundesstraße 96, die von Berlin über Stralsund bis nach Sassnitz führt: Wenn hinter Fürstenberg/Havel die Grenze zwischen Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern überquert ist, dauert es noch gut vier Stunden, bis man Rügen erreicht. Und doch hat man auf dem Weg von der Havel an die See nur ganze zwei Landkreise berührt. Bereits die Destination Vorpommern-Rügen ist mit 3188 Quadratkilometern ein wahres Fürstentum. Den Löwenanteil der langen Fahrt durchfährt man den Großkreis Mecklenburgische Seenplatte: Das Gebiet um die Müritz, Feldberger Seenlandschaft, Tollensesee-Region um Städte wie Neubrandenburg, Neustrelitz, Waren und Demmin umfasst 5468 Quadratkilometer und ist mit Abstand der größte Landkreis in der Bundesrepublik.
Was aber bedeuten solche Zahlen? Zum Vergleich wird im Nordosten oft mit einem gewissen Sarkasmus das Saarland herangezogen, das es als kleinstes »Flächenland« auf 2569 Quadratkilometer bringt. Diese Fläche wird an der Saar von immerhin sechs Kreisverwaltungen, einer Landesregierung mit sechs Fachministerien, einem Landtag mit 51 Abgeordneten und einem Heer von Experten und Mitarbeitern regiert; im Bundesrat verfügt man über drei Stimmen. Weiterhin hat das Saarland einen Jahreshaushalt von knapp vier Milliarden Euro und 16 Milliarden Schulden, eine eigene Landes-Rundfunkanstalt - und als eines von wenigen Bundesländern sogar eine offizielle Landeshymne: »Ich rühm› Dich, Du freundliches Land an der Saar‹«.
An der Seenplatte beläuft sich der Jahreshaushalt auf etwa 430 Millionen Euro, statt einer ARD-Anstalt gibt es ein paar Lokalteile des »Nordkurier«. Und das Kreisgebiet, in dem das Saarland zweimal Platz fände, wird mit einem Landrat, seinen Dezernenten und dem Kreistag regiert, der mit seinen 77 Mitgliedern zwar die Dimension eines kleineren Landesparlaments aufweist, nicht aber hinsichtlich seiner Ausstattung. In den größeren Kreis-Fraktionen - bei CDU, SPD und LINKE - gibt es jeweils zwei oder drei Landtagsabgeordnete, die sich der Doppelbelastung stellen und einen »professionellen« politischen Hintergrund aufweisen. Ansonsten ist die Kreisarbeit auch auf diesem Niveau Sache von Ehrenamtlichen.
Gewiss hinkt der Saar-Vergleich, hat das Bundesland doch eine Million Einwohner und die Seenplatte nur 270 000 - und der Landkreis natürlich weniger Aufgaben als das Bundesland. Dennoch macht die Gegenüberstellung die Dimensionen deutlich, in denen rund um die mecklenburgischen Seen gedacht werden muss. Allein die schiere Fläche, die ständige Fahrerei ist ein Dauerthema. Wer sich in dem überwiegend ländlich geprägten und dünn besiedelten Landstrich an politischen Prozessen beteiligen will - neben den eigentlichen Sitzungen müssen Ausschüsse besucht, Aufsichtsposten in kommunalen Unternehmen besetzt werden -, sitzt für Hin- und Rückfahrt »schnell mal zwei, wenn nicht sogar drei Stunden im Auto«, sagt LINKE-Fraktionsvize Irina Parlow. Zusätzlich zur eigentlichen Arbeit und oft parallel zum Beruf. Deswegen leeren sich die Kreistagssitzungen auch gegen Ende der Tagesordnungen.
Parlow lobt zwar die Ehrenamtlichen: Über alle Fraktionen hinweg seien sie gewissenhaft und engagiert. Im Großkreis sei es dennoch »nicht mehr allen Bürgern zeitlich möglich, sich zu engagieren«. Das Mammut-Kreisparlament scheint auch eine frustrierende Seite zu haben. Nach anderthalb Jahren Arbeit haben bald zwei Hände voll von ihnen schon hingeworfen, darunter auch politisch Erfahrene wie etwa der langjährige Landesbauernchef Rainer Tietböhl, der für die SPD im Kreistag gesessen hatte.
Kreistagspräsident Michael Stieber hat jüngst dem »Nordkurier« geklagt, die Fraktionen hätten die »schlechte Angewohnheit«, ihre Anträge stets auf den letzten Drücker einzureichen, wodurch sich die Sitzungsplanung chaotisch gestalte. Zur Wahrheit gehört wohl auch, dass es die Fraktionen mit ihren begrenzten Ressourcen einfach nicht schaffen, die Papierflut rechtzeitig zu bearbeiten. »Bei solchen Maßstäben stoßen die ehrenamtlichen Strukturen von Kreistagen irgendwann an Grenzen«, sagt der Schweriner LINKE-Fraktionschef Helmut Holter, der als Kritiker der 2011 beschlossenen Reform bekannt war.
Erschwerend kommt hinzu, dass zwar der Landeshaushalt im Nordosten ausgeglichen ist, die Kassen der Kreise und Kommunen aber chronisch leer sind. Händeringend appellierten zuletzt Kreise und Gemeinden, »entweder Aufgaben zu reduzieren oder hierfür ausreichende finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen«. Selbst »bislang finanziell gut ausgestattete Kommunen haben auch bei radikalen Einschnitten im freiwilligen Bereich und bei den Personalkosten keine Chance, ausgeglichene Haushalte zu erreichen«. Zudem müssten die Umstellungskosten für die Kreisreform im Jahre 2011 bitteschön »vom Veranlasser bezahlt« werden.
Bei den Aufgaben denken die Landkreise zuerst an den Sozial- und Jugendbereich, für den sie jetzt etwa zwei Drittel ihrer Mittel aufbringen müssen. Die Hoffnungen richten sich nun auf einem weiteren Notfonds, für den sich einzusetzen die CDU-Landtagsfraktion vor einigen Tagen versprochen hat. Die Großreform, das verschärft die Problematik, kommt gleichzeitig als Sparprogramm daher. Es wird unter diesen Bedingungen nicht einfacher, etwa zwischen den eher städtischen Problemen des seit 2011 »eingekreisten« Neubrandenburg und denen auf dem platten Land zu vermitteln. Deswegen unterstrichen die Seenplatte-Abgeordneten am Montag auf Antrag der LINKEN, dass sich insbesondere an der Finanzsituation etwas ändern müsse.
Parlow warnt daher die Brandenburger, wo gerade die Debatte über eine große Kreisreform begonnen hat, die der im Nordosten in der Stoßrichtung ähnelt. Besonders müssten etwaige Kreisvereinigungen besser vorbereitet werden. Im Seenplatte-Großkreis habe allein schon die Harmonisierung der Datensysteme spürbare Löcher in die Kasse gerissen. Das radikalste Modell in Brandenburg setzt auf sechs Kreise und lässt nur noch Potsdam als kreisfreie Stadt übrig - als wolle das Land Brandenburg, das bis zur Nordost-Reform von 2011 mit der gut 3000 Quadratkilometer umfassenden Uckermark den größten deutschen Landkreis gestellt hatte, diesen »Titel« zurückhaben. »So etwas darf man auf keinen Fall übers Knie brechen«, warnt Helmut Holter aus Mecklenburg.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.