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Ende in einer Blutlache
Ulrike Edschmid gelang ein sehr individuelles Geschichtsbuch
Es ist eine tragisch-typische Vita, die sich in digitalen Quellen über den Mann findet, dem Ulrike Edschmid ihr jüngstes Buch - der Verlag nennt es einen Roman, doch es ist eigentlich eher ein Bericht - widmet. Eine Biografie, die auf die Vorgeschichte der bleiernen Zeit der Bundesrepublik Deutschland (West) verweist: Der Fotograf und Filmemacher Philipp Werner Sauber wird 1947 in Zürich als jüngerer Bruder des (späteren) Schweizer Rennstallbesitzers Peter Sauber geboren. 1967 geht er nach Berlin und beginnt sein Studium an der Deutschen Film- und Fernsehakademie.
Dort produziert er seinen experimentellen Film »Der einsame Wanderer«. Politisiert durch den Ausschluss protestierender Studenten aus der Akademie, schließt er sich der »Bewegung 2. Juni« an und beteiligt sich an Banküberfällen. 1974 zieht er nach Köln, um den Widerstand in den Betrieben zu organisieren. Am 9. Mai 1975 erschießt er bei einer Polizeikontrolle den Polizeibeamten Walter Pauli, bevor er selbst im folgenden Schusswechsel stirbt. Seine beiden Begleiter, Karl Heinz Roth und Roland Otto, werden festgenommen.
Ulrike Edschmid, langjährige Freundin Saubers, erinnert in ihrem dokumentarischen Roman an einen konsequenten Kämpfer, der letztlich Opfer der sich selbst auferlegten Zwänge wird. Es ist ein irritierendes Buch, ein Rückblick auf jene Jahre der BRD, in denen Idealisten (und Fanatiker) in den Untergrund gingen und als RAF, Brigate Rosse etc. eine bessere Welt erstreiten wollten, wenn nötig mit Gewalt.
Edschmids Stil ist karg, distanziert, und trifft genau den intellektuell-rationalisierenden Sound der Argumente jener Jahre. Unter - selbst gewählten? - Erinnerungsschleiern lässt sie ihre Zeit mit Philip S. (der in Edschmids Buch mit dem Initial auskommen muss) hervorscheinen und wieder aufleben. Seit 1967 sind beide ein Paar. Sie begegnen sich an der Filmakademie, sie leben einige Zeit in Berlin zusammen und ziehen dann nach Rom weiter. Philip strebt nach einer radikal-innovativen Ästhetik. Sein »Einsamer Wanderer« (1968) soll die Mission des Dokumentarfilms grundsätzlich in Frage stellen. Dieser Film, »der ihn überleben wird und den niemand versteht«, entsteht als krasser künstlerischer Kontrapunkt zu den Arbeiten der Kommilitonen, die zunehmend politisiert das Leben von Obdachlosen, den Vietnamkrieg oder »Die Herstellung eines Molotow-Cocktails« - ein Film, der Holger Meins zugeschrieben wird - dokumentieren.
Doch irgendwann kann sich auch Philip S. der Faszination der Guerilla nicht mehr entziehen. Von panisch-harsch reagierenden Verwaltungsbeamten in die Illegalität gedrängt - nach Protesten gegen die DFFB-Leitung, die sich gegen Flugblätter wandte, werden 18 Studenten exmatrikuliert, darunter Philip S. - beginnt er ein Doppelleben und taucht ab in den Untergrund. Seine Geschichte endet wie die vieler anderer in jener Zeit in einer Blutlache. Erschossen, weil er zuerst schoss, weil er sich vieles vorstellen konnte, nur nicht das Eingesperrtsein im Gefängnis.
Ulrike Edschmid zeichnet in ihrem Roman ein Stimmungsbild. Sie bezieht keine Position, sie urteilt nicht. Für sich selbst hatte sie früh entschieden: Sie hat einen Sohn, den sie nicht politischer Radikalität opfern will. Doch bietet ihr Roman einen faszinierenden Klangteppich der optimistisch-kämpferischen Spätsiebziger und ihrer Bewegungsaufbrüche. Die Politisierung dieser zähen, schweren Jahre in Westdeutschland durchdringt den Text.
»Das Verschwinden des Philip S.« ist ein ungewöhnliches Stück Betroffenheitsliteratur und ein sehr individuelles Geschichtsbuch.
Ulrike Edschmid: Das Verschwinden des Philip S. Roman. Suhrkamp. 160 S., geb., 15,95 €.
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