Das ist der Zeitgeist
Gestern erschien das neue Silly-Album »Kopf an Kopf«
Alte Köpfe sind im Kommen, im Herbst Fleetwood Mac live on stage mit »Rumours«, ihrem legendären Album von vor 35 Jahren. Roger Waters, der Kopf von Pink Floyd, führt - angeblich zum letzten Mal - »The Wall« aus dem Jahr 1980 auf. Peter Gabriel hat die alte Band zusammengetrommelt, mit der er vor einem Vierteljahrhundert die Platte »So« eingespielt hatte. In Ehren ergraut sind die Köpfe der Supergroup Crosby, Stills und Nash, die im Juni ihre teilweise 45 Jahre alten Songs in Deutschland aufführen. Ihr temporäres viertes Mitglied, Neil Young, erklimmt mit seiner Band Crazy Horse - neben Young sind noch zwei weitere Köpfe aus dem Gründungsjahr 1968 dabei - ebenfalls die Bühne. Im Unterschied zu all den anderen haben Young und Crazy Horse 2012 ein neues und grandioses Werk herausgebracht: »Psychedelic Pill«.
Und was machen die vier Köpfe von Silly? Eine Mont-Klamott-Nostalgie-Tour mit der 30 Jahren alten Musik? Die hatte die Band - ein Kopf von damals ist mit dem Keyboarder Richie Barton noch an Bord - an die Spitze des so genannten Ost-Rocks katapultiert. Nein, Silly veröffentlichte gestern ein nagelneues Studioalbum, benannt »Kopf an Kopf«.
Dass Über-Bands sich damit zufriedengeben, die Kaufkraft ihrer inzwischen gut situierten Fans mit überteuerten Tickets abzuschöpfen, hat auch künstlerische Gründe: Oft ist das musikalische Material ausgespielt, sind die Hitmuster ausgereizt und alle Geschichten, die sich glaubwürdig vortragen lassen, erzählt.
Silly ist nicht nur dieser Gefahr ausgesetzt, die Band muss seit »Mont Klamott« mit dem selbstgesetzten Maßstab leben, musikalisch wie textlich den so genannten Zeitgeist einzufangen. Gemessen daran ist »Kopf an Kopf« (noch) nicht das grandiose Alterswerk, ein würdiges Silly-Album aber allemal. Drei Jahre ließ die Band sich Zeit seit dem Comeback-Album »Alles Rot«. Gegenüber dieser, gelegentlich rumplig klingenden Platte ist der Sound jetzt entschlackt, Hassbeckers Gitarrenspiel in den Hintergrund gemischt, Rezniceks Bass endlich wieder hörbar, das Schlagwerk treibender, der Klang klarer, reduzierter und transparenter; unüberhörbar das Bemühen wie Silly, aber doch anders zu klingen. Die Songs wurden mindestens in drei verschiedenen Studios aufgenommen und gemischt. Im Booklet bedankt sich die Band auch nicht ohne Grund bei allen, »ohne die diese Platte nicht so klingen würde«. Die harte Kopfarbeit daran ist hörbar.
War »Alles Rot« ein astreines Silly-Werk mit der neuen Sängerin Anna Loos, ist »Kopf an Kopf« eher eine Anna-Loos-Platte mit der Band Silly, vor allem im ersten Drittel der CD. Was die Band bewog, das Album mit vier schwächeren Songs zu eröffnen, will mir nicht in den Kopf. Auch setzen viele Stücke - statt mit dem charakteristischen Silly-Intro - unvermittelt mit Loos‘ Stimme ein. Das macht die Musik ähnlich, verwechselbar. Hey, möchte man gelegentlich Vroni Fischer zurufen: Silly hat echt ein paar gute Songs gemacht! Warum willst du sie nicht singen?
Textlich liest sich das meiste wie ein Brevier, in dem Über-40-Jährige in der Ich-Du-Wir-Ästhetik lebenszeitliche Zwischenbilanzen ziehen. Auch wenn drei Autoren am Werk waren - Anna Loos, Werner Karma und, neu, Alexander Freund von der Band Pilot - gibt es nur wenige Geschichten über Dritte, einst eine Stärke von Silly. Das ist der Zeitgeist: Heutige Köpfe, ob in Musik oder Literatur, wollen und/oder können nur über sich selbst reden, das selbst Erfahrene gilt, anderes, Fremdes ist nicht erfahrbar. Der Grat zu kopfloser Agitation aber ist schmal. Beim politischsten und von Werner Karma getexteten Song des Albums - schon dessen Titel »Vaterland« ist absichtsvolles Programm - werden zu orientalischen Kashmir-Klängen Zeilen wie »Wir bringen für Geld / Tod über die Welt« gesungen. Soll das dezent auf deutsche Waffenexporte z.B. nach Saudi-Arabien hinweisen? Das Stück »Dein Atlantis« gar ist nahe am Pop-Kitsch.
Als Silly-Album fängt »Kopf an Kopf« ab dem fünften Song »Blinder Passagier« an zu funktionieren. Der Anfang des Stücks ist brachial, als wollte die Band einen musikalischen Graben zum Davor schaufeln. Der recht existenzielle Text stammt aus dem Nachlass der ehemaligen Frontfrau Tamara Danz. »Spring« - auf Platz 12 versteckt und klanglich an »Flut« vom 1996er Album »Paradies« erinnernd - hat das Zeug zum Silly-Klassiker.
Stark auch die folgenden Songs »Im Kreis« und »Im See«, letzterer ein offensichtlicher Gegenentwurf zu »Über ihr taute das Eis« von »Februar«-Album (1989). »Ohne Dich«, das 15. und letzte Stück, kann als Fortsetzung der Tamara-Danz-Hommage »Sonnenblumen« von »Alles Rot« gelesen werden. Statt der dort gewählten direkten, musikalisch reduzierten Form transportiert »Ohne Dich« Verlust und Trauer als opulentes Werk auf einer allgemeineren Ebene. Ob das die Band vom Kopf her immer genauso gemeint hat, ist dabei gar nicht so entscheidend - Songs dieser Art funktionieren eben als beziehungsreiches Kunstwerk, das für diesen Kopf etwas anderes als für jenen Kopf assoziieren kann.
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