Was fürchtet Putin?

Edgar von Radetzky von Memorial Deutschland über die Aktionen der russischen Staatsanwaltschaft gegen NGOs

  • Lesedauer: 4 Min.

nd: Vor Ostern wurden in Moskau die Büros von deutschen politischen Stiftungen durchsucht. Zuvor hat es russische NGOs getroffen, darunter Memorial. Haben Sie neue Nachrichten von Ihren Kollegen in Moskau?
von Radetzky: Keine, die ein neues Bild ergeben würden. Wir wissen, dass nach der Durchsuchung unsere Kollegen innerhalb von drei Tagen sämtliche Unterlagen fotokopieren und sie den Untersuchungsbehörden bereitstellen sollten. In dieser Frist ist diese Auflage kaum zu bewältigen, denn es betrifft Finanzunterlagen bis hin zu Eintrittskarten und Programmheften. Das ist also ein bürokratisches Monster, und eigentlich eine riesige Schikane. Es wurden übrigens insgesamt 2000 russische Nichtregierungsorganisationen mit Überprüfungen seitens der russischen Staatsanwaltschaft, des Justizministeriums und der Steuerbehörden überzogen.

Was fürchtet Putin von Memorial und den anderen Stiftungen?
Das müssen Sie Herrn Putin selbst fragen.

Sie haben keine Vermutung?
Der völlig unbegründete Verdacht auf Agententätigkeit, der gegen uns und andere erhoben wird, ist ein Zeichen von Schwäche des Regimes. Es geht nur um Machterhalt und um die Angst vor der Entwicklung zu einer wirklich demokratischen und offenen Gesellschaft.
Die gegenwärtige russische Politik fürchtet jeden Einfluss von außen und isoliert so das Land zunehmend.

Isoliert sich Russland oder wird das Land nicht auch isoliert?
Von wem soll es denn isoliert werden? Von uns sicherlich nicht. Wir sind sehr stark an einer Zusammenarbeit mit Russland und russischen Bürgern interessiert. Ich wüsste von keiner Gefährdung, die von uns ausginge. Das Problem liegt bei der russischen Regierung.

Was hat es mit dem Fernsehinterview auf sich, das Oleg Orlow, dem Leiter des Büros von Memorial in Moskau, abgepresst worden sein soll?
Das war an dem Tag, als die Troika von Staatsanwaltschaft, Finanzbehörde und einem Regierungshörigen Sender in das Memorial-Büro eindrang. Unangemeldet. Die Fernsehleute haben Orlow praktisch gezwungen, ein Interview zu geben. Und das ist ungehörig.

Ist er denn in seinen Aussagen verfälscht worden?
Das wohl nicht. Aber der kurz darauf ausgestrahlte Beitrag war diffamierend und suggerierte, die Organisation handele illegal und im Auftrag des Auslands.

Das erinnert fatal an die 1930er und 1940er Jahre in Stalins Sowjetunion.
Historisch liegt der Vergleich nahe. Der Unterschied liegt jedoch darin, dass bisher keine Festnahmen erfolgten oder Anklagen erhoben wurden. Das Vorgehen des Staates erinnert eher an die Zeit des Kalten Krieges, der bleiernen Breschnew-Ära.

Was ist die Aufgabe von Memorial?
Wir haben eine dreifache Aufgabe: erstens die historische Aufarbeitung, insbesondere des Bolschewismus und des Stalinismus. Memorial wurde dafür Ende der 80er Jahre in der Sowjetunion gegründet. Ein Mitbegründer war Nobelpreisträger Sacharow. Die deutsche Sektion hat sich 1993 gegründet. Seitdem arbeiten wir unter dem Dach „Memorial International“ zusammen. Der zweite Aufgabenbereich ist die Unterstützung sozialer Initiativen, Hilfe für die Opfer des Stalinismus und des Krieges, mit dem Hitlerdeutschland die Sowjetunion überzogen hatte, sowie generell für Bedürftige. Ebenso für Waisen oder Schwererziehbare, für die Chodorkowski beispielsweise ein Institut gegründet hatte, das ihm inzwischen aus der Hand genommen wurde und das sich nun voll selbst finanzieren muss. Da versuchten wir auch zu helfen.
Drittens hat sich Memorial die Verteidigung der Grund- und Menschenrechte auf die Fahne geschrieben.

Welche Rechte sehen Sie derzeit besonders gefährdet?
Das Recht auf freie Rede und Meinung sowie die Demonstrationsfreiheit.

Was wäre in Anbetracht der seit längerem unterkühlten Beziehungen des Westens zu Russland die klügste und vernünftigste Reaktion in der Sache?
Die Auffassungen darüber gehen im Westen weit auseinander. Manche raten eher zu Zurückhaltung, andere wollen etwas offensiver oder aggressiver vorgehen, den russischen Behörden unmissverständlich klarmachen, dass es so nicht weitergeht und die Beziehungen zum Westen dadurch möglicherweise erheblich gefährdet sind.

Und Ihre persönliche Ansicht?
Ich denke, man sollte immer wieder versuchen, miteinander ins Gespräch zu kommen.

Der Lehrer mit dem erhobenen Zeigefinger, der gar mit Strafen droht, erreicht weniger beim nicht gelehrigen Schüler als ein sanft argumentierender Pädagoge.
Naja, die diplomatischen Drähte laufen momentan ja auch heiß. Ihr psychologischer Einwand mag richtig sein, aber irgendwann ist eben auch die Grenze erreicht.

Es ist kein Geheimnis, dass an Botschaften und Auslandsinstituten es immer auch ein paar Horch-und Guck-Leute gibt. Was würden Sie jemanden erwidern, der einen solchen Verdacht bezüglich Memorial äußert.
Ich würde ihn energisch abweisen.

Fragen: Karlen Vesper

Der Arzt Dr. Edgar von 
Radetzky, Jahrgang 1939, 
ist Mitglied des Vorstandes von Memorial Deutschland.

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