Halleluja auf die Reichen

Viele Politiker nutzen den Evangelischen Kirchentag in Hamburg als Wahlkampfarena

  • Susann Witt-Stahl
  • Lesedauer: 3 Min.
Evangelische Kirchenvertreter haben beim Protestantentreffen in Hamburg die Kluft zwischen Arm und Reich vorsichtig kritisiert. Mitglieder der antikapitalistischen Linken protestierten gegen den Evangelischen Kirchentag. Sie sehen eine »Allianz von Opportunismus und Aberglauben«.

Der 34. Evangelisch-Lutherische Kirchentag in Hamburg war zunächst (arbeits)weltlichen Angelegenheiten gewidmet. Auf einer Brückenveranstaltung von Kirche und DGB am Hafenrand wurde direkt im Anschluss an die 1. Mai-Feierlichkeiten - in Anlehnung an die offizielle Losung des Protestantentreffens (»Soviel du brauchst«) - unter dem Motto »Soviel Gerechtigkeit du brauchst« diskutiert. »Das Evangelium ist nicht nur für Christen, die in den Himmel kommen wollen - es ist die knallharte Forderung an alle, denen zu helfen, die in Not sind«, gab sich der Bundesminister a. D. und Attac-Aktivist Heiner Geißler Mühe, der gestellten Aufgabe gerecht zu werden. Er kritisierte die seit Jahrzehnten hegemoniale »marktradikale Politik« und forderte: »Wir brauchen ein anderes Wirtschaftssystem.« Davon wollte Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) nichts wissen. Er zog es vor, ein Halleluja auf die verantwortungsvollen Reichen anzustimmen: »Es gibt so viele Vermögende in Hamburg, die sich für ein gerechtes Steuersystem einsetzen. Das entspricht der Botschaft des Kirchentages.«

»Es rettet uns kein höh‘res Wesen«, war auf einem Transparent zu lesen, mit dem eine Gruppe antikapitalistischer Linker gegen die »Allianz von Opportunismus und Aberglauben« protestierte. »Es ist sicher kein Zufall, dass der Kirchentag auf den 1. Mai gelegt wurde«, ärgert sich einer der Demonstranten über die Okkupation seines Kampftages. »Die Kirche ist dazu da, die Gesellschaft ruhig zu halten.«

Das sieht Kirchentagspräsident Gerhard Robbers natürlich anders: Die Losung »Soviel du brauchst« (2. Mose 16,18) soll als »Zuspruch«, »Aufmunterung« und als »Aufforderung« verstanden werden, sich den aktuellen Herausforderungen zu stellen, betonte er auf der morgendlichen Pressekonferenz. In einer Zeit der »Maßlosigkeit« sei diese Formulierung »zeitgemäß, politisch, kritisch, aber auch hoffnungsvoll«. Es sei »unerträglich, wenn durch Spekulation mit Lebensmitteln die Ärmsten hungern müssen«. Auch die Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs kritisierte die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich: »Hamburg ist eine reiche Stadt und trotzdem leben hier sehr viele Familien, die ihre Kinder mit Hartz-IV-Budget großziehen müssen.« Zudem betonte sie, dass die Jugendarbeit der Kirche sich verstärkt gegen Rechtsextremismus engagieren müsse.

Offiziell wurde der Kirchentag in der auf Hochglanz polierten Hansestadt - sie ist nach 1953, 1981 und 1995 bereits das vierte Mal Gastgeber - mit vier Gottesdiensten eröffnet. Der festlichste mit großem Chor und Orchester fand vor dem Rathaus statt. Für die rund 160 000 Besucher, die erwartet werden, bietet das Protestantentreffen rund 2500 Veranstaltungen: Vorträge, Workshops, Diskussionen zu religiösen, ethischen, weltanschaulichen Fragen und brisanten politischen Themen wie Kindersoldaten, kirchliches Arbeitsrecht und den Friedensprozess im Nahen Osten.

Im Bundestagswahlkampf vertrauen die Akteure der Parteien nicht allein auf Gott, sondern auf intensive Werbung in eigener Sache. So wird es ein Podiumsgespräch geben zwischen der Leiterin des UN-Entwicklungsprogramms, Helen Clark aus den USA, mit Bundeskanzlerin Angela Merkel über die Frage: »Was ist die Schöpfung in der globalisierten Welt wert.« Auch Peer Steinbrück ist mit von Partie. Er will in einer Veranstaltung mit dem Titel »Soul Feel du brauchst« seinen reichhaltigen Erfahrungsschatz in die Waagschale werfen und wertvolle Tipps geben, wie in der heutigen Zeit »Schaden an der eigenen Seele« vermieden werden kann.

Die Linkspartei kümmert sich weniger um das Seelenheil von Kanzlerkandidaten - lieber um den himmelschreienden Missstand in der deutschen Exportpolitik: Der Bundestagsabgeordnete Jan van Aken informiert über die »Waffenkammer Deutschland«. Am Freitag werden Gregor Gysi, Bodo Ramelow, Raju Sharma unter der Moderation der Hamburger Bürgerschaftsfraktionschefin Dora Heyenn über »Die Linke und ihren Glauben« diskutieren.

An dem Kulturprogramm mit Theateraufführungen, Lesungen und Konzerten wirken 12 000 Künstler mit. Mit großer Spannung wird die Uraufführung der Oper »Vom Ende der Unschuld« über den von den Nazis hingerichteten Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer im Hamburger Kulturzentrum Kampnagel erwartet. Im Rahmen eines Symposiums über das berühmte »War Requiem« von Benjamin Britten sollen »Wege aus der Gewalt« gesucht werden.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.