Entlarvung durch Provokation
Dadaisten rütteln das bürgerliche Weimar auf - der groteske Humor hat dort viele Freunde
Dieser Tage in Weimar: Auf dem Weimarer fährt die kleine Berkaer Bahn ein. »Jedenfalls jeder jedoch, jener jene jenes, jens - eits« sprechen die heraustretenden Reisenden im Chor. Dazwischen ertönen die Blasinstrumente der Kapelle, die den Zug anführt. Sie werden erwartet. Das Jugendtheater im Stellwerk empfängt mit einer Performance, bevor sich die Schar auf die Straße ergießt, um die bürgerliche Kleinstadt aufzurütteln. Vor einem Jahr hat Michael von Hintzenstern die DADAdekade als Gegenpol zu den touristischen Vermarktungsdezennien wie der Lutherdekade ausgerufen. Inzwischen ist daraus eine Bewegung geworden, an der sich Kreative aus mehreren Städten beteiligen. »Mein Ziel ist es, verschiedene Strukturen im Spaß zusammenzubringen. Es gibt viele gute Initiativen, aber jeder kocht sein Süppchen allein«, erklärt Hintzenstern das, was sich schwer erklären lässt. Eines ist klar: Es geht gegen die Ordnung, gegen festgefahrene Begriffe von Kunst und Kultur, es geht um Entlarvung durch Provokation. So erobert - nach einem Besuch der »Wall of Fame« - der Tross das Atrium, den größten Konsumtempel der Klassikerstadt, friedlich. Hinter Jazzklängen schlängelt sich die Parade durch alle Etagen bis zur Empfangslobby für Touristen, um dort sinnfreie Verse zu skandieren. Aus den Geschäften treten die Einkaufenden mit erfreuten Gesichtern. Das, was sie zu sehen bekommen, war den Besuch wert, und einige entschließen sich spontan, dem Zug zu folgen. »Ich kann nicht DADA machen und vorher das Centermanagement fragen, ob wir durchmarschieren dürfen«, freut sich Hintzenstern über die gelungene Einmischung. Zwei Straßen weiter wartet UFK, Ultra Freier Künstler Benedikt Braun, in der Galerie Eigenheim mit einer Überraschung.
Hintzenstern, der vor allem mit dem »Ensemble für Intuitive Musik« bekannt wurde, beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit den Dadaisten. Seine Aufführungen der »Sonate in Urlauten« von Kurt Schwitters sind legendär. Für die DADAmenta II spielt er mit den Zeilen Theo van Doesburgs, die er während des »Internationalen Kongresses der Dadaisten und Konstruktivisten« 1922 in Weimar auf eine Postkarte schrieb: »Trinken, trinken, trinken, betrunken«. Der Absurde Chor antwortet: »Bierrr herrr, alle Flaschen leerrr.« Doch nicht nur an herausragende Künstler der Dada-Bewegung wird erinnert - neben Doesburg vor allem Hugo Ball, Hans Arp, Tristan Tzara oder Emmy Hennings, für die Weimar Anfang der 1920er Jahre wegen des Bauhauses ein interessanter Ort war. Mit dem österreichischen Dichter Ernst Jandl verbindet Hintzenstern mehr als die Verwandtschaft im Geist, er trat mit ihm gemeinsam auf. Gedichte wie »wachsender pianist« werden zum Finale auf dem Marktplatz deklamiert. Auf dem Weg dorthin treffen die bunt gekleideten Dadaisten aber noch das Modetheater »Gnadenlos schick« und die Band »TUBA LIBRE«, die auf Podesten durch die Stadt geschoben wird. »Im Unterschied zum Vorjahr mit der Kakophonie auf dem Marktplatz, zu der die einzelnen Gruppen aus fünf Himmelsrichtungen kamen und alle zusammen loslegten, haben wir uns für diese Parade entschieden. Das war gut«, sagt Hintzenstern. Der groteske Humor hat inzwischen viele Freunde, die sich beteiligen oder nur zuschauen. Und auch auf Nachbarstädte wie Jena hat die Bewegung bereits übergegriffen. Nach mehreren Aktionen stellt dort gerade Richard von Gigantikow »Mirchtsdirnichts« im Kunsthof aus. Hinter dem Namen verbirgt sich der Berliner Künstler Reinhard Zabka, der Objekten aus seinem Lügenmuseum vorstellt. Im nächsten Jahr soll die DADAmenta nach Gotha weiterziehen, weil dort Hannah Höch geboren wurde. Sie schloss sich früh der dadaistischen Bewegung an und war auf der »Ersten Internationalen Dada-Messe« 1920 in Berlin mit Fotocollagen vertreten.
Weitere Veranstaltungen: 17. Mai, 20 Uhr: Finissage »Richard von Gigantikow - Mirnichtsdirnichts« (Reinhard Zapka) im Kunsthof Jena; 7. Juni, 20 Uhr: »Punkt - Linie - Fläche« Tanz-Klang-Performace (Uraufführung) in der IMAGINATA Jena (Löbstedter Straße 67)
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