Eine von uns

Matthias Wedel über die Vergangenheit von Angela Merkel

  • Lesedauer: 3 Min.

Musste am Freitag erst »Bild« kommen, um uns die Augen über Angela Merkel zu öffnen? Die Frage »Stand sie dem System näher als bisher bekannt?« wird mancher, der Angela Merkel von früher kennt, entspannt mit Nein beantworten können: Sie stand der DDR nicht näher als bisher bekannt. Sondern sie stand ihr so nahe, wie es seit langem bekannt ist.

Ich bin dem flotten Feger Angela bei einem Pfingsttreffen der FDJ begegnet. Sie hatte diesen unwahrscheinlich romantischen Augenaufschlag und dieses monalisasche Lächeln, die uns auch »Bild« zeigt, trug die blaue Bluse und einen Minirock (hörte also schon damals nicht auf Ratschläge in Modefragen). Sie wollte mich in eine Diskussion über den Weltfrieden verwickeln. Da ich jedoch dem Weltfrieden schon damals grundsätzlich positiv gegenüberstand, konnten wir uns ganz normal unterhalten. Auf einer Bank im Park schütteten wir unsere Verpflegungsbeutel ineinander und teilten sie neu auf (sie wollte die Knackwurst nicht, ich nicht den Streichkäse, ich schenkte ihr meine Hansakekse).

Ich fand sie nett, hatte aber irgendwie den Eindruck, dass sie »was Ernsthaftes« wollte, also gab ich vor, am Abend noch dringlich für den Weltfrieden aktiv sein zu müssen und sagte locker: »Also tschüss, vielleicht sehen wir uns mal wieder, wenn Westdeutschland besiegt ist.« Weil ich dabei verlegen lachte, sagte sie spitz: »Was gibt’s denn da zu lachen?«, drehte sich um und suchte ihre Zehnergruppe.

Als ich sie Jahrzehnte später im Eberswalder Zoo wieder sah, hatte sie »was Ernsthaftes« gefunden - den Herrn Sauer und den CDU-Vorsitz. Ich war zufällig dort, sie sollte einen Pinguin taufen. Ich zwinkerte ihr zu, doch tat sie, als kenne sie mich nicht.

Ist ja klar! dachte ich. Eine mit allen Wassern gewaschene Tschekistin wird doch nicht wegen des neckischen Zwinkerns eines alten Verehrers die Konspiration aufs Spiel setzen! Wie viele Geheimdienstler werden wohl schon versucht haben, sie mit Zwinkern und dergleichen aus der Fassung zu bringen. Nein, da müssen die früher aufstehen.

Seitdem sehe ich jeden ihrer Schritte, höre ich jedes ihrer Worte anders, als sie in den Medien widerhallen: Manches, was sie sagt und tut, schützt sie vor Entlarvung. Zum Beispiel wenn sie behauptet, dass sie ihre erste eigene Hose erst seit der Wiedervereinigung besaß. Vieles, was sie tut, sieht aus, als sei es gut mit dem Kapitalismus gemeint. Aber sie macht das System schwächer und schwächer, die meisten seiner strammen Ideologen haben resigniert oder sie hat sie ausgeschaltet. Wenn sie so weiter macht, platzt auch das Europa der Monopole! Die Kämpfer an der unsichtbaren Front in ihrer Familie und unter ihren politischen Förderern haben gute Arbeit geleistet. Und Helmut Kohl, der Einzige, der alles weiß, sitzt im Rollstuhl und kann nicht sprechen.

Bei der Pinguintaufe hat sie damals übrigens einen Satz gesagt, der den im Zoo Versammelten rätselhaft geblieben sein muss, nur nicht mir. »So mancher hat vielleicht vor vielen Jahren einmal gesagt«, rief sie aus, »vielleicht sehen wir uns wieder, wenn das Böse in der Welt besiegt ist und sei es bei einer Pinguintaufe. Diesen Menschen möchte ich das uckermärkische Sprichwort mit auf den Weg geben: Noch ist nicht aller Tage Abend.«

Nein, das ist es wirklich nicht. Vielleicht werden die Historiker in 20 Jahren sagen: Die Genossin Merkel hat als Kanzlerin mindestens soviel für den Sozialismus getan wie Wilhelm Pieck, als er sich weigerte, die Strümpfe zu wechseln, bevor sich die Arbeiterparteien nicht vereinigt haben.

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