Gefährdetes Gebilde
Sören Benn über Europa in der Krise, die Idee der allgemeinen Wohlfahrt und die Euro-Debatte der Linken
Obwohl das Fundament Europas zunehmend zerbröselt und große Bevölkerungsteile in Spanien, in Portugal, in Italien, Griechenland, Zypern und demnächst vielleicht auch Slovenien in Armut gestürzt werden, regt sich kein grenzüberschreitender Widerstand von unten in einem Ausmaß, dass die Regierenden zur Kursänderung zwingt. Stattdessen wird die Logik der Agenda 2010 auf alle Staaten übertragen, die finanzpolitisch ins Trudeln geraten. Privatisierungen folgen, Lohn- und Rentenkürzungen folgen, die Gesundheitssysteme kollabieren.
Wer gehofft hatte, dass das Zeitalter des Neoliberalismus nach dem Ausbruch der Immobilien- und Bankenkrisen seine Legitimationsbasis verlieren würde, musste feststellen, dass diese Hoffnung trog. Das gilt besonders für Deutschland, in dem die Regierung Merkel mit regelmäßiger Unterstützung von SPD und Grünen eine sehr kurzsichtige nationalegoistische Politik verfolgt mit dem Ziel, aus der Krise Profit zu schlagen und Deutschland, bisher mit Erfolg, zum Krisengewinnler zu machen.
Alles was die Regierenden in der Bearbeitung der Krise zuwege bringen, sind wenig mehr als Notmaßnahmen ohne Blick auf die langfristigen Folgen und kosmetische Symbolhandlungen. Das Eis, auf dem sie sich bewegen ist sehr dünn und kann jederzeit brechen.
Allerdings, das muss man konstatieren, es hält und es hält bezogen auf Deutschland schon ziemlich lange.
Den Preis zahlen andere
Das wird Frau Merkel zugeschrieben, daraus bezieht sie ihre Zustimmung und damit verknüpft sich die Hoffnung, der Pfad auf dem sie das Land führt, möge auch weiterhin alle Unbill von Deutschland fernhalten. Den Preis zahlen zunächst andere. Doch auch in Deutschland weitet sich die Schere zwischen arm und reich immer weiter. Prekäre Beschäftigung breitet sich weiter aus und mit den Millionen, die im Niedriglohnsektor arbeiten, tickt die Zeitbombe der massenhaften Altersarmut. Gerade erst sind die Mieterrechte bundesgesetzlich wieder beschnitten worden. In Berlin werden mit der Videoüberwachung von Demonstrationen Bürgerrechte geschliffen, die dringende Energiewende kommt nicht voran und läuft Gefahr, abermals den Großkonzernen gewinnbringend überlassen zu werden. Ob der Mindestlohn ohne die LINKE in der Regierung tatsächlich kommt, ist offen, da die SPD es bekanntermaßen unfair findet, Parteien an ihren Wahlprogrammen zu messen.
Die Regierung Merkel spielt ein gefährliches Spiel und droht die Einheit Europas zu verspielen. Zerfällt der gemeinsame Wirtschaftsraum, zerfällt auch das politische Europa, droht ein europaweiter Rückfall in nationalegoistische Politiken. Das gefährdet den Frieden in Europa und das rückt eine notwendige Erneuerung der Union hin zu einem sozialen und solidarischen Europa in immer weitere Ferne.
Ein Großteil der deutschen Leitmedien enthält sich weitgehend einer Berichterstattung über das Ausmaß der sozialen Katastrophen in denen von dieser Politik betroffenen Regionen und trägt so eine Mitverantwortung für die Binnenfixierung in der Reflexion der deutschen Europapolitik.
Wie kann vor diesem Hintergrund wenige Monate vor der Bundestagswahl im Kontext der Gründung einer neoliberalen Anti-Euro-Partei eine Debatte um das Währungssystem helfen, die Perspektive aus einer mehr oder minder technokratisch- ökonomischen Diskussion mit politischen Folgen zu einer politischen Diskussion mit technokratisch-ökonomischen Folgen zu wenden?
Das Bild von den faulen und korrupten Südeuropäern
Zunächst steigert sie eher die Verwirrung. Sie verstärkt die ohnehin weit ausgeprägte Neigung in der Bevölkerung, die Sache im Wesentlichen den politischen Expert*innen zu überlassen, weil mensch sich selbst intellektuell längst abgehängt fühlt. Übrig bleiben wie immer im Angesicht des Unverstandenen der Instinkt, das Ressentiment oder die Verleugnung. Wer sich kein Urteil bilden kann, fällt zurück auf das Vorurteil.
Mehr oder minder offen wabert in der deutschen Rezeption der Krise das Bild von den faulen, unsortierten und korrupten Südeuropäern durch die Landschaft, mit denen kein vernünftiger Staat, geschweige denn ein ordentliches Europa oder ein funktionierendes Währungssystem zu machen sei. Die deutsche Geduld ist am Ende, auch wenn der statistische Reichtum Deutschlands weiter wächst. Solidarität ist Vorschub zum Schlendrian, jetzt helfen nur harte Erziehungsmaßnahmen.
Vielfach ist bereits darüber geschrieben worden, welches Maß an Mitschuld die Bundesregierungen der vergangenen Jahrzehnte an der aktuellen Situation haben. Leistungsbilanzüberschüsse, Lohndrückerei via Agenda 2010, aggressive Exportorientierung, Kapitalverkehrsfreiheit und europäische Vertragswerke, die sich einen Kehricht um Steueroasen und Steuerwettbewerb scherten, bzw. diese noch beförderten. Zu Krisenbearbeitung werden sie aber wesentlich nicht ins Kalkül gezogen. Ins Blickfeld geraten die anderen. Mit der der wagen Aussicht der Wiedererlangung künftiger Wohlfahrt wird Wohlfahrt verweigert und zerstört.
Europa mag mehr sein als die Schnittmenge gemeinsamer ökonomischer Interessen. Aber wenn die ökonomischen Interessen seiner Mitglieder nicht mehr in einer „win-win“-Situation ihren Niederschlag finden, sondern einer „the winner takes it all“-Situation gleichen, hilft auch die Idee nicht mehr viel. Wem an Europa liegt, der muss sicherstellen, dass allen eine gesicherte Wohlfahrtsperspektive eröffnet wird.
Die Idee der allgemeinen Wohlfahrt ist noch immer ein ganz wesentlicher Teil der europäischen Identität. Wird dieser Anspruch in praxi aufgekündigt, hat die europäische Idee keine materielle Basis mehr.
Richtige Analyse, falscher Schluss
Oskar Lafontaine hat recht, wenn er meint, dass die Voraussetzungen dafür, dass der Euro als Währung eines gemeinsamen wirtschaftlichen und politischen Raumes nur funktionieren kann, wenn es dafür eine abgestimmte Wirtschafts-, Sozial- und Steuerpolitik gibt, die aber in der politischen Repräsentanz in Europa keine Mehrheit hat. Er hat damit so recht, wie Gregor Gysi schon 1998 Recht hatte, als die PDS meinte: “Euro- so nicht“. Der Schluss, den er aus diesem Befund aber zieht, ist schwer nachvollziehbar.
Für seinen Vorschlag bräuchte es ein Maß an abgestimmter Politik der europäischen Regierungen, dass, wenn dieses Maß erreicht werden könnte, sich sein Vorschlag auch erübrigte. Was sein Vorschlag aber mit Sicherheit bedient, wenn auch, so soll angenommen werden, unbeabsichtigt, sind eben jene schon erwähnten Vorurteile.
Hinzu kommt: Jetzt implizit so zu argumentieren, als seien alle linken Vorschläge aus der Zeitrechnung vor dem Vorschlag, wie Zerschlagung und Regulierung der Banken, Kapitalverkehrskontrollen, Finanztransaktionssteuer, Lohnerhöhnungen und Sozialunion ohne eine Währungsreform nichts mehr wert, hilfloser Kleinkram, als hinge an diesem einen Punkte nun plötzlich das Wohl und Wehe der Sinnhaftigkeit aller anderen Maßnahmen ist mindestens eine anspruchsvolle Wendung.
Wenn die LINKE schon seit 1998 Recht hatte und sich dies nun bitter manifestiert, kann ein linker Vorschlag eines Ausweges vielleicht aber auch weiterhin darin liegen, um jene politischen Rahmenbedingungen immer wieder zu kämpfen, die sie schon so lange einfordert. Denn Europa ist nicht nur ein geographisches Faktum, das da ist, mit oder ohne Bekenntnis, mit oder ohne Sympathie. Europa ist auch, bei aller notwendigen und auch harten Kritik an der Entwicklung seiner Institutionen und seiner Politik, tatsächlich zusammengewachsen in den vergangenen Jahrzehnten. Europas Jugend ist bereits in dieses Europa mit seiner gemeinsamen Währung, seiner Freizügigkeit, seinen kulturellen Idealen und den vielfältigen persönlichen Beziehungen hineingeboren. Merkels Politik zerstört gerade die Zukunft eines Teils dieser Jugend und erschüttert das zarte Plänzchen europäischer Identität grundsätzlich. (Der andere Teil dieser Jugend macht sich gerade auf nach Deutschland und löst hier das Fachkräfteproblem.)
Linke Solidarität für Europa
Wenn dieses gefährdete Gebilde den Krisenprozess überstehen soll, braucht es aus linker Perspektive weit mehr und vor allem einen politischen Diskurs der europäischen Solidarität, der ganz grundsätzlich absetzt von der Standort- und Wettbewerbslogik. Wer meinte, suggerieren zu müssen oder zu können, dass mit der richtigen Anreizregulierung und Rahmensetzung jedes seiner Mitglieder zu einem Profitcenter werden könne, begibt sich geradewegs wieder hinein in diesen Diskurs.
Europa produktiv als gemeinsamen politischen Raum gestalten zu wollen, setzt voraus, seine historische, kulturelle, wirtschaftliche und politische Vielfalt anzuerkennen. Dies schließt ein, davon abzusehen, einen Zustand erreichen zu wollen, in dem notfalls auch jeder für sich zurechtkäme. Europa wird immer auch eine Transferunion sein oder es wird politisch nicht sein.
Das zu sagen und zu wollen, das zu vertreten und zu begründen, steht am Anfang. Dafür zu sorgen, dass die Transfers auch dort ankommen, wo sie hingehören, in sinnvolle Infrastrukturen, nachhaltige Energieversorgung, Bildung, Gesundheit, Landwirtschaft, Industrie und Dienstleistungen, also in Wert schöpfende Strukturen, ist dann notwendige Bedingung,
Das Bewusstsein dafür, dass Freiheit und Wohlstand in Frieden für Europa sich eben nicht im sogenannten freien Wettbewerb sichern lassen, sondern dauerhafte Umverteilungen erfordern, ist nicht wirklich entwickelt. Die LINKE sollte darin eine vornehme Aufgabe sehen, dieses Bewusstsein auszuprägen.
Der Euro ist nicht Schuld an der Verarmung Südeuropas und ohne eine grundlegenden Politikwechsel bei der Gestaltung des Binnenmarktes und bei der Weiterentwicklung der europäischen Demokratie, wird auch eine Diversifizierung von Währungen und Wechselkursen an dieser Entwicklung nichts ändern.
Die regulierte Abschottung einzelner Wirtschaftsräume mit Wiedereinführung eines fiskalischen Schleusensystems birgt aber politische Risiken, die sich mit den gegenwärtigen Risiken durchaus messen können, führten sie doch schlimmstenfalls zu einer Desintegrationsdynamik mit allen Potentialen, die dies für alle möglichen Spielarten des Nationalismus eröffnete.
Freilich steht das derzeitige System, für das der Euro symbolisch in Haftung genommen wird, auch nicht für ein Erfolgsmodell der Integration, sondern zunehmend für ein Vehikel deutscher Dominanz.
Viel spricht dafür Oskar Lafontaines Beitrag als dringenden Warnhinweis zu nehmen für Entwicklungen die eintreten können, wenn es nicht gelingt, den Abwärtsstrudel zu stoppen.
Sören Benn ist Referent für Wirtschaft, Arbeit und Partizipation der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus von Berlin.
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